weiterdenken #50: (E/e)rwachsen(er) werden
Über die Herausforderungen, die das Erwachsenenleben bringt.
Die “About”-Seite meines Newsletters beginnt mit den folgenden Worten:
Ich
binwar lange Zeit unter meinen Freunden und Verwandten als ziemlicher Tagträumer, als unpünktlicher Chaot und Kopfmenschverschrienbekannt.Dann hat mich das Erwachsenenleben eingeholt: Ehe. Kind. Hauskauf. Zweites Kind. Ein fordernder Beruf.
Und ich war erschreckend schlecht vorbereitet.
Mit Anfang 30 musste ich — unter dem Druck von eigenen und fremden Erwartungen und sich auftürmenden Verpflichtungen — einsehen, dass ich zum Teil noch denke und handle wie ein Jugendlicher.
Die Wucht, mit der mich diese Erkenntnis traf, ist schwer in Worte zu fassen.
Da stand ich nun — Ehemann, Vater, hochverschuldeter Hausbesitzer — und konnte mir nicht sicher sein, ob ich dem gewachsen war, was auf mich zukam.
Ich musste erkennen:
Im Leben eines Erwachsenen findet man sich ziemlich plötzlich wieder — und muss mit seinen Aufgaben wachsen, während diese unbeeindruckt weiter anschwellen.
Seit meinem Schreckmoment vor wenigen Jahren beschäftigen mich Fragen wie
Was macht einen Erwachsenen aus? Ist man jemals fertig mit dem Erwachsenwerden?
Was bedeutet “Männlichkeit” in der heutigen Zeit? Wie werde ich ein gutes männliches Vorbild für meine Kinder?
Was unterscheidet Reife von Alter, Weisheit von Wissen, Klugheit von Intelligenz?
Kann man bereits als junger Erwachsener und auch ohne traumatische Erlebnisse lernen, sein Leben so zu leben, dass man im hohen Alter nur wenig bereut?
Einige verwandte Themen (wie zum Beispiel Reue hier und hier, althergebrachte Verhaltensweisen, Integrität, menschliche Größe oder Stolz) habe ich in den bisherigen 49 Ausgaben meines Newsletters bereits angerissen.
Daneben habe ich mich sowohl in meiner eigenen Lektüre und Entwicklung als auch in diversen Texten sehr viel praktischeren Themen gewidmet, darunter Entscheidungsfindung, Aufgaben-Management, Selbstreflektion und Gewohnheiten.
Die heutige Ausgabe markiert den ersten Geburtstag dieses Newsletters.
Aus diesem Anlass möchte ich einige vorläufige Erkenntnisse teilen und die nächste Marschrichtung meiner Publikationen andeuten.
Die drei Dimensionen des Erwachsenenlebens
Der Begriff, mit dem man als erstes und am häufigsten konfrontiert wird, wenn man sich bei Erwachsenen über die Herausforderungen des Lebens als Erwachsener erkundigt, ist Verantwortung. Verantwortungen annehmen, sich ihnen stellen und sich bemühen, ihnen gerecht zu werden.
Das ist sicher nicht falsch, und ich werde in naher Zukunft sicher noch auf Verantwortungsübernahme zu schreiben kommen.
Aber es ist eben auch ziemlich offensichtlich.
Ich habe drei Themenfelder identifiziert, die das erwachsener-werden mitprägen und mit denen ich mich in den kommenden Monaten verstärkt auseinandersetzen werde:
Lebenslogistik: Tun, was getan werden muss
Das Erwachsenenleben funktioniert leider nicht ohne erheblichen bürokratischen und administrativen Aufwand. Man kommt nicht umhin, sich mit Formularen, Versicherungen, Verträgen und dergleichen herumzuschlagen auseinanderzusetzen.
Aber zwischen den diversen Verpflichtungen, die Familie, Beruf und Freizeitgestaltung mit sich bringen, wird auch Zeitmanagement zunehmend wichtig.
Hier handelt es sich um die praktischste der drei Säulen. Es geht um Handwerkszeug, das man zur Alltagsbewältigung gebrauchen kann.
Eine Ebene darüber stellen sich aber auch abstraktere Fragen wie:
Welche Schwerpunkte setze ich in meiner Lebens- und Alltagsplanung?
Hier kommen Themen wie Reue-Optimierung und der Umgang mit Sterblichkeit ins Bild.Was bin ich bereit, zu verpassen, um mich anderen Dingen zu widmen? (Stichwort: FOMO — fear of missing out)
Selbstwerdung: Der werden, der man wirklich ist
Der philosophischste der drei Bereiche. Es geht darum, das eigene Weltbild zu kultivieren, indem man widersprüchliche Meinungen und Einstellungen aufeinanderprallen lässt, bis sich die eigenen herauskristallisieren.
Dazu gehören auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen (Non-)Konformismus und die Fähigkeit und Bereitschaft zum eigenständigen Denken.
“Wenn deine Ansichten zu anderen Themen anhand deiner Ansicht zu einem Thema vorhergesagt werden können, musst du gut aufpassen, nicht im Griff eines Ideologen zu stecken.” (Kevin Kelly)1
Auch die Themen Mündigkeit und Rationalität spielen hier eine Rolle.
Erwachsener zu werden bedeutet zwangsläufig, einen Reifungsprozess zu durchlaufen. Der mag schwer zu umschreiben sein, ist aber die entscheidende Abgrenzung zum Jugendlichen, die unser Rechtssystem erkennt.2
Ich denke, dass dazu unter anderem das wiederholte Durchlaufen von Identitätskrisen oder -anpassungen gehört.
“Es braucht eine Balance zwischen demjenigen, der wir sein wollen, und demjenigen, der wir sein müssen. Vorerst aber müssen wir uns damit zufrieden geben, wer wir sind.”
(Brandon Sanderson)3
Zufriedenheit: Mit dem Leben im Reinen sein
Der dritte Lebensbereich, den ich für entscheidend halte, beinhaltet alles, was zur eigenen Zufriedenheit (im Sinne des englischen “contentment”) beiträgt.
Dazu zählt die Fähigkeit und Bereitschaft, Ambiguität und Komplexität zu tolerieren.
Darüber hinaus muss man mit zunehmendem Alter den Umgang mit eigenen und fremden Erwartungen lernen — denn Frustration und Unzufriedenheit wachsen mit dem Abstand zwischen Erwartung und Realität.
Eng damit verbunden ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Perfektionismus: Für ein hohes Maß an Ausgeglichenheit ist es wichtig, möglichst schnell und umfassend mit “Gut genug” zufrieden zu sein.
“Ich glaube, es ist eine Superkraft, zu sagen: ‘Gut genug’.” (Derek Sivers)4
Diese Dimensionen des Erwachsenenlebens beeinflussen und überschneiden sich in vielen Punkten, greifen und verschwimmen ineinander.
Die bereits erwähnte Verantwortung lässt sich beispielsweise sowohl der Lebenslogistik (Welche Verantwortlichkeiten nehme ich an? Wozu sage ich “Ja”?) als auch der Zufriedenheit (Wie werde ich meinen Verantwortungen gerecht?) zuordnen.
Das sind sie also, die Themengruppen, um die meine nächsten Veröffentlichungen schwerpunktmäßig kreisen werden:
Wie werde ich der Mensch, der ich sein kann und sein möchte?
Wie finde ich zu größtmöglicher Zufriedenheit in diesem einen Leben?
Wie bewältige ich die Herausforderungen des Alltags?
Ich weiß nicht, ob ich so lange auf diesem Themenpfad bleiben werde, wie ich aktuell annehme.5 Aber mein derzeitiger Eindruck ist, dass das Projekt, (E/e)rwachsener zu werden, nie ganz abgeschlossen ist. Dementsprechend groß ist das Potenzial für eine mehrjährige Auseinandersetzung.
Und auch mit Blick auf meine derzeit größten Motivatoren — meine Familie — halte ich das für wahrscheinlich:
Mein Wunsch ist, in ein paar Jahren so viel über das Erwachsenwerden nachgedacht, geschrieben und gelernt haben, dass ich ohne viel Mühe meiner Frau ein guter Lebenspartner und — wohl noch wichtiger — meinen Kindern ein guter Wegbereiter, vielleicht sogar ein Vorbild sein kann.
Bleibt mir zuletzt nur noch, mich für eure bisherige Treue und das Feedback zu bedanken — und meine Einladung von meiner “About”-Seite zu erneuern:
“Ich bin selbst noch am Anfang meiner Lernkurve - aber ich möchte dich einladen, mir auf diesem Weg zu folgen und
aus meinen Fehlernmit mir zu lernen.”
PS: Eine Anmerkung in eigener Sache: Das eingangs erwähnte zweite Kind ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Ausgabe entweder bereits einige Tage überfällig oder wenige Augenblicke alt.
Daher werde ich meine Newsletter nur noch alle zwei Wochen versenden, bis wir als nun vierköpfige Familie unseren neuen Rhythmus gefunden haben.
Original-Zitat aus dem The Knowledge Project-Podcast #166:
"If your views on other things can be predicted from your views on one thing, you need to be very careful that you’re not in the grip of an ideologue."
Nach § 105 JGG kann auch ein Heranwachsener (also jemand zwischen 18 und 21 Jahren) noch nach Jugendstrafrecht belangt werden, wenn die “Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand”.
Original-Zitat aus dem Roman “The Hero of Ages”:
“There has to be a balance […] between whom we wish to be and whom we need to be. […] But for now, we simply have to be satisfied with who we are.”
Original-Zitat aus dem Tim Ferris Show-Podcast #668:
“I think that saying ‘good enough’ is a superpower.”
Der eine oder andere treue Leser wird sich erinnern, dass ich vor nicht allzu vielen Ausgaben Reue und Vergänglichkeit als meine neuen Schwerpunkt-Themen angekündigt hatte. Dass ich mich thematisch (zumindest für die nächsten Monate) noch eine Ebene höher niederlasse, deute ich als gutes Zeichen: Mein wöchentliches Schreib-Projekt zwingt mich zur ständigen Evaluation meiner Interessen, weil ich Woche für Woche entscheiden muss, welchem der vielen Themen, die an meiner Aufmerksamkeit zerren, ich mich ausführlicher widmen möchte.