weiterdenken #20
Reue-Optimierung (Teil 2): Moral / Beziehungen
Yay - Jubiläum! Die 20. Ausgabe meines kleinen Newsletters. 🙂
Vielen Dank für die bisherige Treue, die Rückmeldungen und Anregungen. Auf die nächsten zwanzig Wochen.
Update 1
Künftig soll mein Blog weitergedacht.blog wieder Mittelpunkt meiner öffentlichen Denkarbeit werden. Im Newsletter möchte ich vorrangig neue Blog-Artikel sowie hilf- oder lehrreiche Inhalte, persönliche Anekdoten und kurze Gedanken teilen.
Derzeit ist "weiterdenken" aber der Hauptgrund dafür, dass ich überhaupt keine neuen Blogartikel schreibe. Die wenige Zeit zum Schreiben, die mir zur Verfügung steht, nutze ich fast ausschließlich für den Newsletter.
Daher werden meine Newsletter ab der nächsten Ausgabe deutlich kürzer - und gleichzeitig hoffentlich noch konkreter und hilfreicher.
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Update 2
Der Aus- und Umzug geht munter voran, aber der knappe Zeitplan und das hohe Maß an Abhängigkeit von externer Hilfe zehren an den Nerven.
Im Rahmen dieses Projektes erlebe ich aber sehr deutlich und handfest, was ich bisher vor allem theoretisch für richtig hielt:
Man unterschätzt erheblich, was man an einem Tag schafft, und unterschätzt, wie viel man über längere Zeiträume vollbringen kann
Am Ende jedes einzelnen Tages blicke ich mich in der immer noch vollen Wohnung oder auf der chaotischen Baustelle um und frage mich, wann und wie das alles zu machen sein soll.
Aber nach eineinhalb Wochen täglicher Mühen zeichnet sich deutlicher Fortschritt ab.
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Reue-Optimierung Teil 2

In Ausgabe 19 ging es um die ersten beiden der vier Kategorien des Bedauerns aus Daniel Pinks Buch "Die Kraft der Reue": Schlechte Lebensführung und fehlender Wagemut.
Im Folgenden reiße ich die fehlenden beiden Kategorien sowie einige zentrale Hinweise von Pink zur Vermeidung von Reue in diesen Bereichen an.
1. Reue wegen moralischer Fehler
Diese Kategorie braucht wahrscheinlich wenig Einleitung. Alles, was man sich unter "Hätte ich mich nur richtig verhalten!" vorwerfen kann, fällt in diesen Bereich von Bedauern.
Kniffliger ist die Frage, wie man moralische Fehlentscheidungen vermeidet, um sie sich später erst gar nicht vorwerfen zu müssen.
Persönliche Moralvorstellungen und Prinzipien werden erstens im Laufe der Zeit überhaupt erst erkannt und verändern sich zweitens mit den Jahren und Erfahrungen teils drastisch.
Man kann also zur besseren Entscheidungsfindung nicht einfach das 10 Jahre ältere Zukunfts-Selbst um Rat fragen. Und anders herum kann man sich 10 Jahre später - als quasi anderer Mensch - Fehlentscheidungen von vor einer Dekade nur bedingt vorhalten.
Wie nun aber in der Gegenwart eine moralische Entscheidung möglichst richtig treffen?
Der erste Teil der Antwort betrifft den eigentlichen Moment der Entscheidung und ist so profan wie bedeutsam: Hör auf dein Bauchgefühl.
Das ist leichter gesagt als getan. In der Rationalitäts-Vernunfts-Wissenschafts-Ecke, in der ich gedanklich beheimatet bin, gelten Bauchgefühl bzw. Intuition als enge Verwandte des "gesunden Menschenverstandes". Dementsprechend zweifelhaft ist ihr Ruf.
Dennoch: Muss eine sofortige moralische Entscheidung getroffen werden, gibt es - neben blitzartigem Abwägen der Aspekte und Argumente, die einem bekannt sind oder gerade einfallen - kaum ein anderes Instrument.
Der zweite Teil der Antwort betrifft die längerfristige Vorbereitung auf moralische Entscheidungen und lautet: Trainiere deinen moralischen Muskel.
Konkrete Vorschläge:
Versammle ein "
challenge network
"
: Jeder sollte eine kleine Gruppe von engen Freunden oder Verwandten (z.B. in einem Messenger-Gruppenchat) haben, deren Mitglieder sich schonungslos ehrlich harte Wahrheiten mitteilen und gemeinsam über schwere Entscheidungen oder komplexe Themen nachdenken.Lerne dich selbst kennen
: Eine regelmäßige Tagebuch- oder Reflexions-Praxis oder auch ein psychologisches Coaching können erstaunliche Denk- und Verhaltensmuster aufdecken, die die eigene Entscheidungsfindung massiv beeinflussen.Kultiviere dein Weltbild
: Je relevanter das Thema, desto breiter gefächert und gegensätzlicher sollten die Quellen sein, die wir dazu konsumieren. Mit einer Handvoll Inputs mitten aus der eigenen Filterblase macht man es sich zu einfach, wenn es um etwas so Fundamentales wie die eigenen moralischen Grundwerte geht. Also: Viel und weitreichend lesen und lernen, verschieden Sichtweisen im Kopf kollidieren lassen, eigene Schlüsse ziehen - und danach handeln.
Gewissensbisse in diesem Lebensbereich sind quasi vorprogrammiert. Aber es ist ein wichtiges Langzeit-Projekt, zu einer moralisch gefestigten Person heranzureifen - und dann auch nach den Werten zu leben, die man sich angeeignet hat.
2. Reue wegen verlorener Beziehungen
Die letzte - und größte - Kategorie von Gründen, aus denen Reue entspringt, betrifft zwischenmenschliche Beziehungen - genauer gesagt ihr Scheitern.
Some relationships fray. Others rip. A few were inadequately stitched from the beginning. But in every case, these regrets share a common plotline. A relationship that was once intact, or that ought to have been intact, no longer is. ("The Power of Regret", S. 118/119)
Diese "Hätte ich mich nur gemeldet"-Gewissenbisse können uns Menschen besonders nachhaltig beschäftigen - insbesondere dann, wenn eine Beziehung unwiederbringlich verloren ist.
Gerade die wirklich engen, wichtigen Beziehungen sind nicht durch eine einzelne Zankerei zu zerstören. Aber wie viele Eltern-Kind-Beziehungen wurden schon wegen einer Meinungsverschiedenheit und etwas Sturköpfigkeit über Jahre hinweg auf Eis gelegt?
(Auch an dieser Stelle möchte ich nochmal auf den nun schon mehrmals empfohlenen Artikel "The Tail End" von Tim Urban verweisen: Wir haben sehr viel weniger Zeit mit unseren Eltern, als uns üblicherweise klar ist. Welche Streit-Themen sind es wirklich wert, diese kostbare Zeit ungenutzt zu lassen?)
Reue kann in diesem Fall nur (oder immerhin) noch als Motivation und Anlass dienen, denselben Fehler nicht nochmal zu machen.
Sehr oft sind Beziehungen aber auch ohne konkreten Anlass "eingeschlafen": Alte Freundschaften, der Kontakt zu entfernteren Verwandten oder früheren Mentoren.
Zwei Erkenntnisse aus Daniel Pinks Recherchen dazu fand ich bemerkenswert:
1. Wir überschätzen, wie unangenehm eine erneute Kontaktaufnahme wird, und unterschätzen, wie willkommen sie wäre.
Erstaunlich oft hält uns die Sorge vor Blamage oder Ablehnung davon ab, zum Hörer zu greifen oder eine Nachricht zu schreiben. Dahinter steht ein Phänomen namens "pluralistic ignorance": Jeder Einzelne von uns nimmt an, ganz anders zu ticken als alle anderen um einen herum - und jeder um uns herum denkt dasselbe von sich.
Das Ergebnis: Wir selbst würden uns total über ein Kompliment von einem Fremden freuen. Aber selbst jemand anderem ein Kompliment machen? Keinesfalls - das wäre unangebracht.
Dasselbe passiert, wenn wir erwägen, einen eingeschlafenen Kontakt wieder aufzunehmen: Würde derjenige sich bei uns melden, wäre es womöglich das Highlight des Monats. Aber selbst den ersten Schritt machen? Keinesfalls - das wäre unangebracht.
Bullshit! (Es ist mein Newsletter, ich darf hier schreiben, was ich will.) Was soll passieren?! Im schlimmsten - und wirklich unwahrscheinlichen - Fall wird man tatsächlich abgewiesen. Dann hat man es zumindest probiert - und man hat nichts verloren.
Also: Spring über deinen Schatten und reiche demjenigen die sprichwörtliche Hand. Er oder sie wartet womöglich genauso sehnsüchtig darauf wie du.
2. Intakte Beziehungen sind ein herausragender Faktor für unser Wohlbefinden.
Das womöglich ambitionierteste psychologische Forschungsprojekt der jüngeren Geschichte ist die sogenannte "Grant Study": Seit 1939 werden mehrere Hundert Menschen und ihre Nachkommen detailliert begleitet. Ihr Lebensverlauf wird auf zig verschiedene Einflussfaktoren für ihren Erfolg, ihre Gesundheit und ihre Zufriedenheit untersucht.
Dabei hat sich unter anderem gezeigt, dass intakte Sozialbeziehungen einen deutlich größeren Einfluss auf die Gesundheit und Zufriedenheit hatten als beispielsweise Reichtum oder Berühmtheit.
Men who’d had warm childhood relationships with their parents earned more as adults than men whose parent-child bonds were more strained. They were also happier and less likely to suffer dementia in old age. People with strong marriages suffered less physical pain and emotional distress over the course of their lives. Individuals’ close friendships were more accurate predictors of healthy aging than their cholesterol levels. Social support and connections to a community helped insulate people against disease and depression. ("The Power of Regret", S. 126)
Daraus folgt sehr eindeutig: Die Pflege unserer Sozialbeziehungen verdient einen besonders hohen Stellenwert in unserem Alltag.
Mach den Anruf. Schreib die Nachricht.
Sonst wirst du es womöglich bitter bereuen.
Fundstücke und Empfehlungen
Zwei hilfreiche Entdeckungen aus der vergangenen Woche:
#NSDR Protocol with Dr. Andrew Huberman (10 minutes) — www.youtube.com
NSDR (non-sleep deep rest) ist eine Atem- und Aufmerksamkeits-Übung zur Verringerung von Anspannung und Nervosität. Mir haben die 10 min beim Wieder-Einschlafen nach einer Stunde nächtlicher Grübelei geholfen.
Read Something Great — www.readsomethinggreat.com
Auf dieser Webseite werden jeden Tag (oder auf Knopfdruck) sechs andere handverlesene Artikel auf die Startseite gestellt. Eine tolle Möglichkeit, gute (englische) Essays und Autoren zu finden.
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Zitat
Stoicism's Lessons For A Disciplined Life | Modern Wisdom Podcast 541 — www.youtube.com
"Man kann sehr viel Zeit damit verbringen, eine Leiter zu erklimmen, bevor man merkt, dass sie an der falschen Wand steht." (Chris Williamson)
Danke fürs Lesen
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