weiterdenken #43: Stolz
Stolz als Konzept will mir nicht einleuchten. Zu stark ist meine Überzeugung, dass man sich die eigenen Leistungen nicht wirklich anrechnen kann. Aber ganz ohne Stolz scheint es auch nicht zu gehen.
In weiterdenken #36: Freier dank unfreiem Willen habe ich angerissen, warum ich von der Unfreiheit menschlichen Verhaltens überzeugt bin und wie ich in mehrfacher Hinsicht von dieser Ansicht profitiere.
Eine weitere Konsequenz dieser Überzeugung: Stolz als Empfindung ist mir fremd.
Warum ich mich mit Stolz schwer tue
Wer auf eine Leistung stolz ist, rechnet sie sich selbst zu.
Auf den ersten Blick erscheint das einleuchtend: Man verdankt seinen beeindruckenden Bizeps, seine künstlerischen Fertigkeiten, seinen Studienabschluss oder andere herausragende Erfolge den eigenen Anstrengungen. Oder?
Ein Blick “hinter die Kulissen” derartiger Errungenschaften lässt mich daran zweifeln: Erfolge jeglicher Art gelingen mithilfe von Eigenschaften wie
Entschlossenheit,
Disziplin und Resilienz,
Energie-Management oder
Lernfähigkeit und -bereitschaft.
Aber: Niemand kann beeinflussen, ob und in welchem Maße man zum relevanten Zeitpunkt über die erforderlichen Eigenschaften verfügt.
Ja, man kann an sich arbeiten und solche Eigenschaften an sich selbst steigern.
Aber: Niemand kann beeinflussen, ob und in welchem Maße das gelingt und ob man die Voraussetzungen dafür mitbringt.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Auch die Steigerung von Eigenschaften, die eigene Erfolge erst möglich machen sollen, ist ein Erfolg - und beruht wiederum auf Eigenschaften, die schon vorhanden gewesen sein müssen.
Hinter jeder Ebene von Erfolgsfaktoren, die man sich zurechnen möchte, arbeitet eine weitere Ebene von Faktoren, die man sich nicht zurechnen kann.
Irgendwann landet man immer bei einer Kombination aus Genetik, Umwelteinflüssen und Prägung - den drei großen Variablen unserer Menschwerdung.
Keine dieser drei Variablen unterliegt unserer Kontrolle.
Die Auswirkungen dieser Variablen sind folglich auch kein eigener Verdienst.
Woher also soll plötzlich Stolz kommen, wenn ich eine Leistung vollbringe, zu der jemand anderes nicht fähig sein mag? Es ist purer Zufall, dass ich die dafür notwendigen Voraussetzungen in die Wiege gelegt bekommen habe.
Stolz auf einen Zufall sein? Was bei dem eigenen Geburtsort (Nationalstolz) keinen Sinn macht, macht bei der eigenen Intelligenz oder körperlichen Leistungsfähigkeit auch nicht wirklich viel Sinn.
Warum mir Stolz bisher nicht gefehlt hat
Diese Sichtweise wirkt womöglich deprimierend oder ist schwer anzunehmen. Wer gibt sich schon damit zufrieden, eigene Erfolge oder Leistungen als Zufallsprodukte des Universums zu betrachten? Und welches Elternteil möchte sich schon ausreden lassen, stolz auf das eigene Kind zu sein?
Zunächst einmal - um noch kurz den Möchtegern-Philosophen heraushängen zu lassen - wird ein Argument nicht dadurch falsch, dass einem die Schlussfolgerung nicht gefällt.
Darüber hinaus ist meine Sichtweise nicht so düster, wie es den Anschein macht.
Natürlich passieren Errungenschaften aller Art nicht einfach aus Zufall. Für die wichtigsten Dinge im Leben muss man hart und lange arbeiten, an Herausforderungen wachsen und aus Fehlern lernen. Man muss sich reflektieren, disziplinieren und Emotionen regulieren lernen.
Die Voraussetzungen, mit denen wir in unsere Bemühungen starten, mögen weitgehend vorgegeben sein. Aber sie bestimmen eher unser Potential, als dass sie irgendwelche Leistungen vorweg nehmen.
“Du kannst alles schaffen” mag eine wohlgemeinte Übertreibung sein.
“Du kannst sehr viel mehr schaffen, als du denkst” ist keine Übertreibung.
Und schließlich bewahrt die Abwesenheit von Stolz auch vor falschem Stolz oder Arroganz. Wer sich in seinen besten Momenten, wenn alle - man selbst eingeschlossen - über einen staunen, nicht selbst auf die Schulter klopft, der tut es in seinen schwächeren Momenten erst recht nicht.
Betrachtet man sich selbst und andere als Organismen mit einer zufälligen Kombination von Eigenschaften und daraus abgeleiteten Fertigkeiten, dann gibt es keine gute Grundlage mehr dafür, sich über andere zu erheben - denn Zufall kann sich niemand anrechnen. Er ist der große ethische Gleichmacher.
Warum ich lernen muss, Stolz zu empfinden
Bis vor wenigen Jahren bin ich mit dieser Haltung gut zurecht gekommen. Intellektuelle Bescheidenheit wurde geradezu zu einem meiner Markenzeichen und ich lernte, mir selbst gröbere Fehler schnell zu verzeihen.
Dann passierten rund um meinen 30. Geburtstag zwei Dinge:
Mein Selbstwertgefühl erwies sich als dramatisch niedrig - und das hatte Folgen.
Ich wurde Vater - und auch das hatte Folgen.
Auf der Suche nach den Gründen, weshalb ich so wenig für mich selbst übrig hatte, erwies sich “Ich lobe mich nie selbst, selbst wenn ich etwas Besonderes vollbracht habe.” als ein vielversprechender Kandidat.
Wie sich herausstellt, gerät das philosophische Herumgedenke über Sinn und Unsinn bestimmter Empfindungen da an seine Grenzen, wo diese Empfindungen schlicht und ergreifend Kernbestandteil der menschlichen Gefühlswelt sind - oder sein sollten.
Man kann über Emotionen wie Eifersucht oder Gier oder Missgunst debattieren, so viel man will: Wenn die eigene Partnerin offensiv angebaggert oder der unfähige Kollege an einem vorbei befördert wird, hilft womöglich alle Philosophie nichts.
Dann wird erst einmal empfunden, was das Zeug hält.
An eine ähnliche Grenze bin ich mit meiner Haltung zum Stolz geprallt:
Wenn mein Sohn überraschend eine neue Fähigkeit an den Tag legt, sprüht mir bereits Stolz aus den Ohren, bevor mein Gehirn klugscheißerisch intervenieren kann, dass Stolz über fremde Leistungen ja nun erst Recht keinen Sinn ergibt. Denn wie sich zeigt, ist stolz auf jemand anderen sein intellektuell so gar nicht mehr einleuchtend, aber als Baustein für soziale Bindungen von enormem Wert.1
Als Vater möchte ich natürlich, dass mein Sohn zu einem selbstbewussten Individuum heranwächst. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass die (gelegentlich überschwängliche) Anerkennung seiner Leistungen durch mich und andere dabei eine bedeutende Rolle spielen dürfte.
Und ich habe - nachdem ich geradezu nachdrücklich dazu ermuntert werden musste - festgestellt, dass es mir gut tut, mir in Momenten des Erfolg gelegentlich mal ein Lob auszusprechen. Der Besserwisser in meinem Kopf darf gern meckern, wenn dafür mein innerer Schwarzgurt im Tiefstapeln etwas mehr Selbstbewusstsein zulässt.2
Was für die meisten völlig profan klingen mag, ist für mich tatsächlich ziemlich herausfordernd. Schließlich verlangen mir diese Momente ab, gegen eine jahrelang gefestigte und immer wieder vor mir selbst bestätigte Grundhaltung zu rebellieren.
Womöglich ist “Stolz” auch nicht das richtige Wort dafür, was ich mir oder meinem Sohn - oder in meiner Rolle als Trainer möglicherweise bald meinen Schützlingen - gegenüber empfinde. Aber die genaue Bezeichnung ist auch nicht so wichtig wie die Erkenntnis, dass es in Ordnung wichtig ist, sich diese Empfindung zu erlauben.
Das ganze Thema weist viele Parallelen zur Thematik “um Entschuldigung bitten” auf. Aber das gehört in einen anderen Text.
Diese Metaphern werden Ihnen präsentiert von F. Schulz von Thuns “Das Innere Team”.