In Ausgabe 71 habe ich die Streber, Spießer und Langweiler dieser Welt positiv hervorgehoben:
“Je eher man mit dem Erwachsen anfängt, umso größer der Vorsprung vor den Altersgenossen, die diese Lebensphase erst später beginnen.”
Auf Facebook gab es darauf (hier und hier) für meine Verhältnisse erstaunlich viele Reaktionen, was mich zunächst einmal wirklich freut. Allerdings fielen die vorwiegend skeptisch bis verständnislos aus.
Das möchte ich zum Anlass nehmen, etwas ausführlicher über meine Position zum notwendigen Erwachsenwerden nachzudenken.
Jugend genießen, solange es geht?
Mehrere Kommentare richteten sich gegen meine Betonung einer langfristigen Perspektive bei der eigenen Lebensgestaltung. Statt schon mit Anfang Zwanzig für das Leben als Fünfzigjähriger vorzusorgen, solle man sein Leben leben, solange man noch kann.
Erstens glaube ich, hier wird ein falsches Dilemma aufgemacht: Man kann und sollte sich von Moment zu Moment bemühen, möglichst präsent im Hier und Jetzt zu sein. Und wie ich in Ausgabe 71 schrieb:
“Unsere Jugendjahre sollen ein Stück weit „verschwendet“ werden. Videospiele, Reisen, Partys – das alles darf gern eine Weile Selbstzweck sein.”
Ein guter Teil der Zeit und Energie eines jeden Mittzwanzigers darf und sollte in Sinnloses, in Experimente und Grenzerfahrungen, in Selbst- und Fremdbegegnung sowie Welterkundung investiert werden.
Zugleich – und das ist kein Widerspruch – sollte man aus meiner Sicht bei der Auswahl der Aktivitäten, mit denen man seinen Alltag füllt, irgendwann einige hinzunehmen, die sich erst langfristig bezahlt machen.
Und das sehe nicht nur ich so: In “Die Kraft der Reue” identifiziert Dan Pink anhand einer gewaltigen weltweiten Umfrage die vier häufigsten Gründe für Reue.
Einer davon: foundational regrets. — “Hätte ich nur mehr Arbeit reingesteckt.”
Kein Wunder: Gesundheit, Finanzen, Beziehungen oder auch der Erwerb wichtiger Fähigkeiten und Eigenschaften sind allesamt Aspekte des Lebens, die über viele Jahre hinweg ein erhebliches Maß an Zeit und/oder Einsatz erfordern. Fängt man damit erst sehr spät oder nie so wirklich an, gibt man sich in der zweiten Lebenshälfte viele gute Gründe, sich über die eigene Lebensführung zu ärgern.
Zweitens bin ich der Meinung, dass die ersten Jahre der Volljährigkeit oft zu Unrecht erst herbeigesehnt und später glorifiziert werden.
Ja, es stimmt: Nie wieder werden der Körper so leistungsfähig, die Freiheiten so weitreichend und die Möglichkeiten so unbegrenzt sein.
Aber: Für diejenigen, die gerade mitten in dieser Lebensphase stecken, ist sie oft sehr belastend. Junge Menschen Anfang bis Mitte Zwanzig werden zwischen
eigenen Ansprüchen,
fremden Erwartungen und dem Gruppendruck der peer group,
dem Erschrecken über den Zustand der Welt und
der verzweifelten Suche nach so etwas wie einer Identität
ziemlich aufgerieben. Kommen dann noch Herausforderungen wie eine Lebenspartnerschaft oder ein eigenes Kind hinzu, kommt man sich schnell ganz fürchterlich unvorbereitet vor – zurecht.
So ging es (und geht es teilweise immer noch) auch mir.
Das wird nicht einfacher, wenn man jungen Menschen in dieser Situation signalisiert, dass gerade dieser Lebensabschnitt vollgestopft sein sollte mit Augenblicken des Glücks, Phasen der Selbstverwirklichung und den erinnerungswürdigsten Momenten des Lebens.
„Wenn wir die schwerste Zeit des Lebens als die beste ausgeben, machen wir diese Zeit nur noch schwerer für alle, die sie gerade durchleben.“
(Susan Neiman, „Warum erwachsen werden?“)
Es mag gute Gründe geben, das normale Erwachsenendasein wenig enthusiastisch zu betrachten. Das macht die Zeit davor noch lange nicht zum Zuckerschlecken.
„Der „Ernst des Lebens“ fängt nicht erst mit Ende Zwanzig an. Für jeden Teenager oder jungen Erwachsenen fühlen sich die eigenen Probleme verdammt ernst an.“
Meine Mutter (sinngemäß)
Das Peter Pan-Problem
Eine weitere Entgegnung, die mich zum Nachdenken gebracht hat, lautete:
„Jeder Mensch hat seine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit.“
Ja, das stimmt. Und es ist echt ärgerlich, wenn junge Menschen unter zu großen Druck gesetzt werden, sich schneller oder anders oder besser zu entwickeln. Ich halte es für ein Merkmal besonders lebenswerter Gesellschaften, dass sie Volljährigen ein hohes Maß an Freiraum einräumen, um ihre Selbstentwicklung in die eigenen Hände zu nehmen und so zu betreiben, wie sie es wünschen.
Aber: „In die eigenen Hände nehmen“ und „betreiben“ meint aus meiner Sicht aktives Handeln, nicht passives Geschehen-lassen. Ich plädiere dafür, die eigene Selbstentwicklung zielgerichtet, planvoll und bewusst anzugehen, ohne in eine ungesunde hustle culture oder einen Optimierungswahn zu geraten.
Eine Analogie: Kleinkindern wird ein großzügiger Korridor der „Normalentwicklung“ zugestanden. In allen Bereichen der Kindesentwicklung sind selbst starke individuelle Abweichungen von der „Norm“ unproblematisch1. Aber: Ab einem gewissen Grad des Zurückbleibens hinter der durchschnittlichen Normalentwicklung spricht man von einer Entwicklungsverzögerung, und es wird therapeutisch eingegriffen.
In gewisser Hinsicht kann man das auf Volljährige übertragen: Es ist völlig in Ordnung, in einiger Hinsicht auch mit Ende Zwanzig oder auch in seinen dreißiger Jahren noch deutlich kindlicher, unreifer oder weniger „typisch erwachsen“ zu sein als Gleichaltrige.
Aber: Ab einem bestimmten Maß der Kindlichkeit im Erwachsenenalter wird die Selbstverortung – die Beanspruchung eines eigenen Platzes mitten in der Welt – zu einem frustrierenden Unterfangen. Wer sich mit Dreißig in entscheidenden Lebensbereichen noch wie ein Teenager verhält, wird auf der Suche nach Akzeptanz und Respekt einige unangenehme, selbstentwürdigende Erfahrungen machen.
Ich glaube, für das eigene Glück ist es besser, ein einigermaßen souveräner, kompetenter Erwachsener (oder besser: ein Erwachsender) zu sein, der im richtigen Kontext das „innere Kind“ hervorholen, schamlos herumalbern oder mit seinen Freunden Unsinn reden kann, als mit Ende Dreißig noch ein „Peter Pan“ zu sein, der kaum zu einer ernsten Unterhaltung, geschweige denn zu verantwortungsvollem Handeln in der Lage ist.

Das Leben wartet nicht
Die Welt „da draußen“ ist vor allem die Welt der Erwachsenen. Es sind Menschen ab Ende Zwanzig, die in jeder erdenklichen und relevanten Hinsicht den Ton angeben.
Erwachsene machen die Gesetze und setzen sie durch; sie besetzen die staatlichen und sonstigen relevanten Institutionen, führen Unternehmen und erledigen alle Arbeiten, die in der „Welt da draußen“ anfallen. Sie lenken die Geschicke der Menschheit, handeln Gesellschaftsverträge aus und begründen kulturelle Normen.
Will man in dieser Welt seinen Platz finden, kommt man ums Erwachsenwerden nicht herum. Zum einen erfordert das Behaupten der persönlichen Lebens-Nische Selbstbewusstsein. Das muss man sich erarbeiten, indem man sich über einige Zeit und Kontexte hinweg selbst beweist, dass man sein kann, wer man sein möchte.
Zum anderen bekommt man seinen Platz in einer Gesellschaft immer auch ein Stück weit zugewiesen. Das heißt: Bewegt man sich mit zu viel kindlich-naivem, unreifem Verhalten und Denken in der Welt der Erwachsenen, wird man spüren und zu spüren bekommen, dass man noch nicht wirklich angekommen ist.
Auf die Frage eines Kommentators, was für mich „Erwachsen“ heißt, habe ich noch keine gute Antwort. Ich arbeite an einem längeren Text, in dem ich versuche, mich diesem Wort zu nähern.
Aber heute würde ich antworten: Erwachsen sein bedeutet, zur angestrebten Teilhabe an der Welt der Erwachsenen in der Lage zu sein.
Das fällt einem nicht in den Schoß, sondern braucht einige zielgerichtete Arbeit an sich selbst, Gelegenheiten für die richtigen Erfahrungen und die Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst, das eigene Leben und den eigenen Erfolg zu übernehmen. Wer diese Teilhabe früher wünscht, muss früher anfangen.
Passende Lektüre:
Das scheint vielen Eltern nicht bewusst zu sein, weshalb der Vergleich ihres Kindes mit anderen Gleichaltrigen oft zu Verunsicherung führt.