Grüß dich, Salomon
„Annual Review“ — Dieser Eintrag steht seit Dezember 2024 auf meiner ToDo-Liste. Seitdem wird er, wie es in der Bullet Journal-Methode üblich ist, von Monat zu Monat mitgenommen, sofern er relevant bleibt.
Auf meinem Blog habe ich ausführlich über den Jahresrückblick als zentrales Instrument zur Lebensplanung geschrieben. Zugegebenermaßen entstammt dieser Rat aber mehr dem Hörensagen als eigener Erfahrung: In den mehr als fünf Jahren, die ich bisher in Bullet Journals dokumentiert habe, habe ich erst einen ernsthaften Jahresrückblick verfasst — ein Paradebeispiel für Salomons Paradox (Es ist sehr viel leichter, anderen Menschen gute Ratschläge zu geben, als sie selbst zu befolgen).
Dieser Text erscheint Anfang März — und der Eintrag steht immer noch in meiner Aufgabenliste. Eine Anklageschrift aus zwei Worten.
Ich muss gestehen, dass ich mich diesbezüglich selbst enttäusche.
Und nicht nur das: Mein Unvermögen, einen Jahresrückblick durchzuführen, reiht sich ein in eine ganze Liste ernsthafter Selbstenttäuschungen:
Mit einigen meiner engsten Familienmitglieder und Freunde habe ich sehr viel weniger und unregelmäßiger Kontakt, als ich gern würde.1
Mein Sportpensum ist oft deutlich niedriger und mein Süßkram-Pensum deutlich höher, als gut für mich ist.
In Gegenwart mein Frau und Kinder bin ich zu oft nicht wirklich präsent, ziehe mich ans Handy oder in ein Notizbuch zurück.
All diese Punkte haben ernsthaftes Reue-Potenzial: Erstens weiß ich, dass diese vernachlässigten Aktivitäten gut für mich sind bzw. wichtig für mich sein sollten; zweitens möchte ich einer dieser Menschen sein, die solche Aspekte ihres Lebens hoch priorisieren.
Glücklicherweise ist es vor diesem Hintergrund etwas Gutes, von sich selbst enttäuscht zu sein — wenn man konstruktiv damit umgehen kann.
Was will einem das Universum sagen?
Der Schlüssel zu einem erwachsenen, gewinnbringenden Umgang mit Enttäuschung liegt in der genauen Betrachtung des Wortes selbst: Ent-täuschung.
Enttäuscht zu werden oder — schlimmer noch — sich selbst zu enttäuschen, ist im ersten Moment unangenehm. Es ist aber eigentlich etwas Positives: Das Universum lässt einen spüren, dass man sich etwas vorgemacht hat.
Je nachdem, worum es geht, hat man sich womöglich zu viel vorgenommen, hat sich selbst oder anderen etwas Unrealistisches abverlangt oder ist tatsächlich nicht so motiviert oder überzeugt, wie man dachte.
Eine Kollision der eigenen Erwartungshaltung mit der indifferenten Realität kann schmerzhaft sein, aber sie eröffnet die Möglichkeit, ein paar wichtige Erkenntnisse zu sammeln. Die Alternative — das Aufrechterhalten einer Selbsttäuschung — ist wohl kaum empfehlenswert.
An die Stelle von Selbstbetrug kann Selbsterkenntnis treten, wenn man den Stich der Reue als Auslöser für eine ehrliche Selbstreflektion nutzt.
In meinem Fall muss ich wohl einsehen, dass ich den Jahresrückblick zwar für wertvoll halte, ihn aber nicht — wie eigentlich angedacht — in den wenigen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester erledigt bekomme. Auch eine großzügige Fristverlängerung bis Ende Januar war keine Hilfe, weil meine arbeitsfreien Zeitfenster mit alltäglichem Journaling und Schreiben sowie Haushalt, Sport und Familienzeit schon mehr als gefüllt sind.
Mir scheint: Zumindest in den wirklich bedeutsamen Lebensbereichen — Sozialleben, Selbstverwirklichung, Elternschaft etc. — droht ständig entweder Selbsttäuschung oder Selbstenttäuschung.
Entweder ist man gerade dabei, sich zu viel auf einmal vorzunehmen — oder man stolpert darüber, sich zu viel vorgenommen zu haben, und nimmt Anpassungen vor.
“Unsere Leben verlangen von uns weitaus mehr Flexibilität als Planung.“
—Kendra Adachi2
Vier Techniken für höhere Enttäuschbarkeit
Letztendlich bleibt einem nichts anderes übrig, als sich mühsam von Enttäuschung zu Enttäuschung empor zu irren. Das wird unweigerlich immer wieder mal unangenehm — umso wünschenswerter ist es, diesen Prozess nicht auch noch unnötig in die Länge zu ziehen. Je eher man die richtigen Schlüsse zieht, umso besser.
Nachsicht mit sich selbst
Bevor man sich daran machen kann, aus irgendwelchen Misserfolgen zu lernen, muss man aber seinen Frieden mit dem machen, was geschehen ist.
Gelegentlich leichter gesagt als getan, aber: Sich selbst immer wieder vergeben zu können, wenn man der eigenen Erwartung nicht gerecht geworden ist, ist ein enorm wichtiger Faktor. Groll hilft eigentlich nie bei irgendwas. Hier auch nicht.
Eine effektive Technik dafür ist der Perspektivwechsel in die Rolle eines guten Freundes. Was man einem wichtigen Menschen nicht lange vorhalten oder nachtragen würde, sollte man auch sich selbst schnell verzeihen.
Journaling
Ja, das schriftliche Gespräch mit sich selbst kann — zum Beispiel in Verbindung mit dem vorherigen Tipp — eine sehr hilfreiche Möglichkeit sein, eine herbe Enttäuschung zu verarbeiten.
Das muss aber kein seitenlanger Aufsatz werden.3 Greg McKeown, Autor von „Essentialismus“ und „Effortless“, empfielt einen einfachen Dreierschritt, um für Klarheit über die nächsten Schritte zu sorgen:
Was? — Und? — Und nun?4
Mit der ehrlichen Beantwortung dieser drei Fragen kommt man aus dem passiv-verbitterten Enttäuschtsein über ein Stück Selbsterkenntnis schnell wieder in die aktive Selbstwirksamkeit.
Reporter statt Richter
Bei dem Versuch, der Selbstenttäuschung — beispielsweise mithilfe der Journaling-Vorlage von eben — auf den Grund zu gehen, sollte man sich bemühen, wie ein neutraler Reporter die Sachlage zu erfassen und zu analysieren.
Wer dagegen an dieser Stelle nichts verloren hat, ist der innere Richter: Es gibt hier kein Urteil zu fällen, keine Bewertung vorzunehmen.
Saisonalität
Ein wichtiges Konzept, an das ich mich aber auch immer wieder erinnern muss: Auf allen Zeitebenen hat unser Leben verschiedene Saisons.
Manch eine Saison — zum Beispiel der Vorrang der Kindersorge — dauert einige Jahre; in anderen Fällen geht es nur um ein paar Monate oder sogar nur einige Wochen, in denen ein bestimmter Lebensaspekt besonders im Vordergrund steht.
So oder so: Man muss akzeptieren lernen, dass in jeder Lebenssaison, in der eine Facette des Alltags besonders betont wird, andere Bereiche — so wichtig sie auch sein mögen — notwendigerweise vernachlässigt werden müssen.
Beim „Und nun?“-Schritt der oben angedeuteten Journaling-Technik, in dem es um das Durchdenken konkreter Konsequenzen oder Planen nächster Schritte geht, kann sich das beispielsweise so auswirken, dass man gezielt bestimmte Zeiträume auswählt, in denen man konkrete Vorhaben priorisiert.
Außerdem ist man nun an der Stelle angekommen, an der konkrete Produktivitäts- und Selbstmanagement-Techniken angewandt werden können, um der letzten Selbstenttäuschung nicht die nächste Selbsttäuschung folgen zu lassen.
Ich werde mir noch den März Zeit geben, den Jahresrückblick nachzuholen — allein schon, um meine Annahme zu prüfen, dass diese Übung einen Mehrwert bietet, der die Mühe rechtfertigt.
Außerdem habe ich verstanden, dass ich früher damit anfangen und einige Vorarbeiten (insbesondere Wochen- und Monatsrückblicke im Journal) rechtzeitig erledigt haben muss.
Was die Kontakte zu Freunden und Familie angeht, muss ich ein Stück weit akzeptieren lernen, dass mein Sozialleben aktuell in weiten Teilen in den eigenen vier Wänden stattfindet; mit gelegentlichen Begegnungen mit wichtigen Menschen ist die Kapazitätsgrenze bereits erreicht.
Für häufigere Nachrichten oder Telefonate bietet sich die Suche nach konkreten Zeitfenstern an, in denen man das ritualisiert einplanen kann. In meinem Fall womöglich der eine oder andere Arbeitsweg. Oder Toilettengang. Da ist das Handy eh immer dabei.
Enttäuscht-sein ist einfach. Es ist ein passives mit-sich-geschehen-lassen.
Der spannende Teil kommt — je nach Reaktion — unmittelbar danach:
Das persönliche Wachstum.
Weitere Lektüre
Grüße nach Jüterbog, Berkenbrück und Schulzendorf. Ich gelobe Besserung.
Original-Zitat aus dem Deep Questions-Podcast: „Our lives require us to pivat far more than they require us to plan.“
Es muss tatsächlich überhaupt kein Eintrag in irgendein Tagebuch sein; wichtig ist die Externalisierung der eigenen Gedanken. Das geht auch im Gespräch mit einem Freund. Oder dem Hund.
Original-Wortlaut: „What? So what? Now what?“
Grüß dich, Felix! Mir scheint, wir sind diesbezüglich in einer ähnlichen Situation. Ich habe auch die letzten Jahre einen Rückblick und Ausblick verfasst, und bin dieses Jahr irgendwie (noch?) nicht dazu gekommen. Ich habe zwei kleine Töchter (3,5) und bin für sie zuständig, während meine Frau voll arbeiten geht. Ich mache nebenbei so dies und das, aber die Zeit reicht irgendwie für nichts.
In Bezug auf Freunde und Familie habe ich lernen müssen, wirklich zu reduzieren, und nichts mehr nur aus einem Gefühl der Pflicht heraus zu tun, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass es für die andere Person oder mich wirklich wichtig ist. (Darunter leiden vor allem die Kontakte zur Familie.)
Auch das nicht-wirklich-präsent-Sein mit der family zu Hause kenne ich sehr gut. Ich bin -- vor allem seit ich Substack-Artikel schreibe -- nie wirklich fertig mit etwas, sondern ständig über meine Themen am lesen oder nachdenken oder strukturieren oder schreiben. Das Problem ist so ein bisschen, dabei bin ich auch einfach glücklich und fühle mich im Flow -- was für ein Luxusproblem ;)
Nietzsche sagt, dass der Mensch das Tier ist, von dem zu viel verlangt wird :) Das finde ich immer wieder sehr passend, und würde bedeuten, dass es vollkommen in Ordnung ist, von sich selbst enttäuscht zu sein -- solange man sich davon nicht runter ziehen lässt -- sondern eigentlich der geeignete modus vivendi für einen tatkräftigen Menschen. Es gibt auch ein Zitat von so einem Maler, vllt van Gogh?, der sagte, was er im Leben will ist malen und dann im Sterben betrübt darüber sein, wie viele Bilder man noch hätte malen können...
LG aus Belgien
Conrad
p.s. sorry für den langen kommentar