weiterdenken #26: Streben und Vergeben
Auf dem Weg zu einem "besseren Menschen" sind Rückschläge oft schwer zu ertragen. Aber eine andere Wahl haben wir nicht.
“Papa, ausmachen! Buch angucken!”
Autsch. Mein Sohn hatte mich bei einem kurzen Blick aufs Handy ertappt, während wir eigentlich dabei waren, ein Buch zu lesen.
Gab es irgendwas Wichtiges auf dem Bildschirm zu sehen? Natürlich nicht.
Es gab etwas wirklich Wichtiges unmittelbar neben mir: Mein Kind!
Üblicherweise bin ich relativ gut darin, mir schnell zu verzeihen. Diesmal war mein gedankliches Selbstgespräch eine wütende und enttäuschte Standpauke.
Wütend, weil ich mich von etwas völlig Irrelevantem um einen weiteren Moment mit meinem Sohn hatte bringen lassen.
Enttäuscht, weil ich angenommen hatte, in meiner Entwicklung hin zu einem präsenten, aufmerksamen Vater deutlich weiter zu sein.
Aber wie sich zeigt, ist die Entwicklung zu einem besseren Zukunfts-Selbst weniger geradlinig und nachhaltig als erhofft.
Hat man Glück, wurde man auf dem Weg zu einem jungen Erwachsenen zu einem begeisterten Leser.
Hat man viel Glück, liest man im Laufe des Lebens einige Bücher, die die eigene Sicht auf die Welt, die Annäherung an die Herausforderungen des Lebens nachhaltig prägen.
Die Bestseller “Essentialismus” und “Effortless” von Greg McKeown sowie diverse Werke von Ryan Holiday (darunter “Dein Hindernis ist dein Weg” und “Dein Ego ist dein Feind”) waren für mich solche Bücher.
Nicht in dem Sinne, dass ich den Autoren in jeder Hinsicht zustimme oder jede ihrer Empfehlungen angenommen haben.
Aber durchaus in dem Sinne, dass sie meine Idealvorstellung von Zukunfts-Felix umfassend erweitert oder abgeändert haben.
Essentialismus als Prozess
“The way of the Essentialist is the relentless pursuit of less but better. It doesn’t mean occasionally giving a nod to the principle. It means pursuing it in a disciplined way.” (Greg McKeown in “Essentialism”, S. 10)
So definiert Greg McKeown den “Weg des Essentialisten”, den er in seinem Buch entwirft: Als “Streben” oder “Bemühen”.
In seinem Podcast berichtet er regelmäßig von Momenten, in denen er seinen eigenen Empfehlungen nicht gerecht geworden ist. Konsequenterweise bezeichnet er sich als “Essentialist in Ausbildung” oder “werdender Essentialist”.
Stoizismus als Sammlung von Idealen
Ryan Holiday (“The Daily Stoic”) ist seit Jahren als Coach, Redner und Autor zu modernen Anwendungsmöglichkeiten antiker Weisheiten erfolgreich. Sein Spezialgebiet: Stoizismus.
Auf Instagram, in seinem Podcast und seinen diversen Veröffentlichungen demonstriert er regelmäßig, wie sehr er die Kerngedanken dieser Philosophie für sich selbst adaptiert und in sein Leben integriert hat.
Und doch: Auf die Frage, was einem praktizierenden Stoizisten auszeichnet, antwortete er wiederholt (sinngemäß):
“Praktizierenden Stoizist ist, wem es häufiger gelingt als nicht gelingt, stoizistischen Werten und Idealen zu gerecht zu werden.”
Und er macht keinen Hehl daraus, dass auch er selbst immer wieder von den Idealen abweicht, deren Verbreitung er zu seiner Lebensaufgabe erhoben hat.
Disziplin und Nachsicht
Der Mensch zu werden, der man irgendwann sein möchte, ist schwer. Es erfordert eine zunehmend klarer werdende Idee davon, was diesen künftigen Menschen ausmacht, und Methoden, um sich dem anzunähern.
Ich möchte unbedingt ein Vater werden, der seinem Kind in den richtigen Momenten selbstverständlich seine volle Aufmerksamkeit schenkt.
Genau deswegen habe ich immer eine Münze in der Hosentasche und ein Armband um, auf denen “Tempus Fugit” (“Zeit verfliegt”) eingraviert ist.
Mein Sohn hat mich mit wenigen Worten daran erinnert, dass ich diesem Ideal noch nicht immer gerecht werde.
Aber dieser Augenblick der Scham war auch Anlass, mich darauf zu besinnen, dass niemand seinen Idealen immer gerecht wird.
Niemand wacht eines Tages als die Art von Mensch auf, der er oder sie schon immer sein wollte - zumindest nicht mit Anfang 30.
Man wird zu dem Menschen, der man irgendwann sein möchte, indem man sich so oft wie möglich darum bemüht.
Auf diesem Weg braucht es Disziplin und Entschlossenheit, ja. Aber es braucht auch Nachsicht mit sich selbst.