Eine der unerfreulicheren Erfahrungen, die man im Leben machen kann, ist, in eine ernsthafte körperliche Auseinandersetzung zu geraten.
Dabei sind die drohenden Schmerzen noch nicht einmal das Schlimmste. Viel dramatischer ist das erschreckende Gefühl der Ohnmacht, das einen überkommt, wenn man dem Angreifer nicht gewachsen ist. Man ist hilflos gefangen in einer wirklich bedrohlichen Situation und kann nur noch hoffen, einigermaßen glimpflich davon zu kommen.
Aber: Man muss nicht unvorbereitet und hilflos in eine solche Situation geraten. Schon einige Monate von hinreichend intensivem, regelmäßigem Training in einer geeigneten Kampfsportart können dafür sorgen, dass man kein wehrloses Opfer bleibt, sondern ein ernstzunehmender Gegner wird.1
An dieser Stelle wird aus dem kurzen Werbeblock für Kampfsporttraining eine Metapher für vorausschauende Lebensführung. Denn: Während man mit etwas Glück das Ende eines langen Lebens erreichen kann, ohne jemals körperlich angegriffen worden zu sein, sind einige schmerzhafte Konfrontationen mit dem Schicksal geradezu garantiert.
Plötzliche Krankheits- oder Todesfälle im engsten sozialen Umfeld, schwere Rückschläge oder Niederlagen, die Trennung von der vermeintlich großen Liebe, eine Identitätskrise, die Zurückweisung durch einen Mentor, der Ausschluss aus einer peer group – solche Schicksalsschläge können einen ordentlich ins Taumeln bringen, wenn man (metaphorisch gesprochen) keine gute Deckungs- und Beinarbeit hat.
“Bist du nicht bescheiden, wird das Leben dich bescheiden machen.“ (Mike Tyson)2
Der wichtigste Schritt
Im Kampfsport- bzw. Kampfkunst-Bereich gibt es eine zentrale Erkenntnis:
Der wichtigste Gürtel ist der weiße.“
Gemeint ist: Der größte Unterschied besteht zwischen jemandem, der völlig untrainiert ist, und jemandem, der ein bisschen Training absolviert hat. Von da an wird man nur noch graduell besser – aber im Vergleich zum Untrainierten ist man regelrecht in einem anderen Universum von Wehrhaftigkeit unterwegs.
Diese Lektion ist übertragbar auf das Leben generell: Körperliche Wehrhaftigkeit ist wichtig, weil man im öffentlichen Raum jederzeit ungewollt in eine reale körperliche Auseinandersetzung geraten kann. Mentale bzw. emotionale Wehrhaftigkeit ist nochmal wichtiger, denn sie ist garantiert irgendwann gefordert. Dabei ist schon eine kleine Investition in die eigene Resilienz viel wert.
Im Kampfsporttraining kann man sich langsam steigern, vom Schattenboxen über leichtes und härteres Sparring bis zum Wettkampf. Man kann sich in verschiedenen Teildisziplinen fokussiert verbessern, hat Schutzausstattung an, eine begrenzte Kampffläche, feste Regeln und eine Zeit- und Rundenbegrenzung.
All das gibt es beim realen und auch beim metaphorischen Straßenkampf nicht. Hier werden die (Schicksals)Schläge nicht durch Handschuhe abgemildert, es gibt keine Regeln und weder ein Ringrichter noch das weiße Handtuch können einen aus der Situation retten.
Mentales Schattenboxen
So, wie es viele verschiedenen Möglichkeiten gibt, sich auf eine Schlägerei vorzubereiten, gibt es zahlreiche Ansätze zur Vorbereitung auf die unvermeidliche Konfrontation mit den Schattenseiten des Lebens. Hier vorerst nur eine Auswahl:
Journaling / Gespräche mit Vertrauenspersonen
Schon ohne Tragödien oder Krisen ist unsere Gedankenwelt voller Grübeleien, Widersprüche, trügerischer Erinnerungen, offener Fragen und halbgarer Ideen. Wie mit einem „mentalen Scheibenwischer“3 kann man mithilfe eines Journals oder tiefgreifender Gespräche mit Vertrauten für mehr Durchblick und Ordnung im Oberstübchen sorgen.
Therapie / Coaching
Jeder von uns bringt Ballast aus der Kindheit und Jugend mit in sein Leben als Erwachsener, in seine Beziehungen und seine Selbstwahrnehmung. Die allermeisten von uns dürften davon profitieren, sich mit professioneller Hilfe damit auseinanderzusetzen, bevor es aufgrund einer Krise sein muss.
Beziehungspflege
Unsere Beziehungen sind unser emotionales Sicherheitsnetz und der größte einzelne Einflussfaktor für die eigene Lebenszufriedenheit. Mit wem wir eine Langzeit-Partnerschaft eingehen, ist eine der wichtigsten Entscheidung unseres Lebens, und die Qualität dieser Beziehung sowie ein paar enge, vertrauensvolle Freundschaften sind entscheidend für unser Glück.
Körperliche Fitness
Ein gesunder, starker Körper ist nicht nur hilfreich im Alltag. Er ist auch eine der wichtigsten Investitionen in die persönliche Zukunft: Zum einen übersteht man Erkrankungen besser, zum anderen ist ein regelmäßiges Sportprogramm sehr vorteilhaft für die mentale Gesundheit.
Unterscheidung von Kontrollierbarem und Unkontrollierbarem
Diese Kernidee des Stoizismus ist einer der wertvollsten Filter beim Blick auf das eigene Handeln, bei der Entscheidungsfindung und emotionalen Regulation. Je weniger Energie und Zeit man für Dinge verschwendet, die man sowieso nicht beeinflussen kann, umso mehr von beidem bleibt für die Faktoren, Tätigkeiten und Bereiche, in denen man einen Unterschied machen kann.
Auseinandersetzung mit Sterblichkeit und der Kürze des Lebens
Ein weiteres zentrales Konzept der stoizistischen Philosphie: Memento mori. Erinnere dich, dass du sterben wirst — schlimmer noch: Dass du jederzeit sterben könntest. Je früher man seinen Frieden mit der eigenen Sterblichkeit und der seiner Liebsten macht, umso leichter fällt es, den wirklich wichtigen Dingen Priorität einräumen – und umso weniger unvorbereitet trifft einen der worst case.
Entwicklung von Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein
Junge Erwachsene, aber auch Menschen am Ende ihrer beruflichen Karriere fragen sich oft: Wer bin ich eigentlich? Wonach strebe ich? Was macht mich aus?
Fragen wie diese sind schwer zu beantworten. Aber die Mühe lohnt sich: Eine einigermaßen klare Vorstellung von der eigenen Identität eröffnet erst die Möglichkeit, sich in der Welt zu verorten und sich zu zahlreichen Themen zu positionieren.
Auch nach jahrelangem, regelmäßigem Kampfsport-Training bleibt eine Schlägerei eine gefährliche, weitgehend unberechenbare Situation. Aber sie wird durch die Erfahrungen und Fertigkeiten, die man erworben hat, um Dimensionen beherrschbarer als für einen Untrainierten.
Dieselbe Chance auf hilfreiche Vorbereitung hat man in Bezug auf die heftigen Schicksalsschläge, die unweigerlich auf jeden von uns zukommen. Ich halte es für klug, diese Chance zu ergreifen, solange man noch Zeit und Energie dafür hat.
Weiterführende Lektüre:
Selbstverständlich gibt es auch einige Möglichkeiten, es gar nicht erst zur Auseinandersetzung kommen zu lassen. Aber dann funktioniert meine Metapher nicht.
Original-Zitat (zitiert in “Ego is the Enemy” von Ryan Holiday):
“If you're not humble, life will visit humbleness upon you.”
Inspiration: Julia Cameron bezeichnet in ihrem Buch “The Artist’s Way” die von ihr empfohlenen drei täglichen Seiten Journaling (“Morning Pages”) als “spirituelle Scheibenwischer”.