Wie treue Leser wissen, beschäftigt mich aktuell kaum ein Thema so sehr wie das Erwachsenwerden und -sein. Ich habe dazu inzwischen so viel gelesen, Podcasts gehört, Unterhaltungen geführt, nachgedacht und Notizen gemacht, dass es sich eher wie ein Buch- als ein Blog-Projekt anfühlt. Die schiere Menge an Material erschwert es mir aber, darüber zu schreiben: Je mehr ich darüber lerne, umso mehr schrecke ich davor zurück, einzelne Ideen und Ansätze per Newsletter zu verwerten, weil notwendigerweise wichtige andere Aspekte unerwähnt bleiben müssen.
Ich brauche das Schreiben aber, um diese Konzepte zu durchdenken – und ich hoffe auf Feedback, um nichts Wichtiges zu übersehen. Daher springe ich über meinen Schatten und beginne eine unregelmäßige Serie von Texten, die jeweils einen Ausschnitt meiner Recherchen und Überlegungen zum Erwachsen behandeln.
Mein Aufschlag zu dem Thema war Ausgabe 50.
Mein bisher wichtigster Text dazu ist „Die Erwachsenden“.
Die Ausgabe 71 und Ausgabe 73 betrachte ich nachträglich als Teile 2 und 3 dieser Reihe.
Es ist gar nicht so einfach, erwachsenes Denken oder Handeln eindeutig von dem von Jugendlichen oder Heranwachsenden abzugrenzen – aber wir erkennen es, wenn wir es sehen.
Wie bei den meisten Aspekten des menschlichen Verhaltens ist auch für die Unterscheidung von kindlich-jugendlichem und erwachsenem Verhalten ein Kontinuum, ein Spektrum das bessere Modell als ein entweder-oder.
Das zeigt sich schon mit Blick auf die juristische Grenze der Volljährigkeit – in Deutschland und vielen anderen Ländern das vollendete 18. Lebensjahr. Welche Qualität haben wir im Alter von 17 Jahren und 11 Monaten nicht oder nicht hinreichend ausgeprägt, über die wir wenige Wochen später plötzlich verfügen? Und hat nicht jede Schule mit Oberstufe einige erstaunlich reife, souveräne 16-jährige und viele verflixt kindische 19-jährige?
Welche Qualität auch immer einem einfällt, die das Erwachsensein markieren könnte: Man findet sie zu einem gewissen Maße auch bei vielen Jugendlichen; andersherum sind die allermeisten Erwachsenen bis ins hohe Alter zu Albernheiten und kindischem Unfug in der Lage.
“Was bei Kindern kindlich ist, wirkt bei Erwachsenen kindisch.“ (Walter Ludin)
In dieser Hinsicht steht man auf der Suche nach einer überzeugenden Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Nicht-Erwachsenen vor einem ähnlichen Problem wie bei der Frage, ob es typisch männliche und weibliche Eigenschaften gibt oder ab welchem Alter man das Wählen oder Autofahren erlauben sollte: Menschen sind in ihrer Entwicklung so unterschiedlich und die Unterschiede innerhalb einer Gruppe immer so viel größer als zwischen Gruppen, dass starre Grenzen immer ein Stück weit willkürlich erscheinen, je näher man hinschaut.
Und doch halte ich meine Suche nach der Bedeutung des Erwachsenseins nicht für überflüssig. Schwierigkeiten, ein schwer greifbares Konglomerat aus Variablen zu sortieren, machen den Begriff „erwachsen“ – und seinen Gegenpol auf dem Spektrum, „kindisch“ – nicht völlig inhaltsleer sind. Wir meinen mit diesen Worten etwas, auch wenn wir es schwer umschreiben oder nicht überzeugend begründen können.
“Erwachsen ist man dann, wenn man weiß, wann man kindisch sein kann und wann nicht.“ (Dang Ngo)
Der früher verbreitete Ansatz, das Erwachsensein entlang sozialer Meilensteine wie Schulabschluss, Auszug aus dem Elternhaus, Berufs- oder Studienabschluss, Familiengründung etc. zu messen, ist inzwischen weitgehend aus der Mode gekommen.
Aber was meinen wir denn nun, wenn wir jemanden oder uns selbst als „erwachsen“ bezeichnen?
Womöglich ist es hilfreich, sich dem Erwachsensein per Ausschlussprinzip zu nähern: Wenn man das Handeln und Denken identifiziert, das hinreichend deutlich nicht-erwachsen ist, muss das Gegenteil davon doch zumindest näherungsweise umreißen, was Erwachsensein ausmacht.
Die Abgrenzung von der Adoleszenz mag im Detail herausfordernd sein – aber kindliches und erwachsenes Verhalten dürften sich gegenseitig ausschließen.1
Heißt also, dass wir, wenn wir uns selbst oder jemand anderen als „Erwachsenen“ identifizieren, zunächst einmal attestieren, dass derjenige sich – zumindest in der Situation – nicht wie ein Kind oder Teenager verhält.
Irgendwie unbefriedigend. Und keinesfalls erschöpfend. Aber es ist ein Anfang.
Von hier aus schließen sich viele Aspekte und Ebenen an. Um nur ein paar Schlagworte zu nennen, die ich in kommenden Teilen dieser Reihe behandeln möchte: Identität und Integrität, Verantwortung, Konfliktbereitschaft, emerging adulthood, Selbstverortung, der Umgang mit Fehlern und Rückschlägen, Meta-Skills, Introspektion und Reflektion, die Auseinandersetzung mit der Kürze des Lebens und unserer Sterblichkeit – und und und.
Ich hoffe wie immer auf euer Feedback.
Bis in zwei Wochen – Felix
Das heißt wohlbemerkt nicht, dass Erwachsene nicht regelmäßig kindisch handeln können – und vielleicht sogar sollten. Ich habe Einlassungen gelesen und gehört, die im Kind-bleiben den Schlüssel zu Kreativität sehen.