weiterdenken #58: Bruch und Reparatur
Beziehungen wachsen durch Wiedergutmachung, nicht durch Vermeiden von Fehlern
Derzeit kann ich mir selbst in Echtzeit dabei zusehen, wie ich eine meiner zentralen Sorgen als Vater verliere.
Ausgangssituation
Aktuell strebe ich als Vater danach, in den unvermeidlichen Momenten, in denen unser Sohn mich wütend macht, enttäuscht oder auf irgendeine Art triggert, möglichst gefasst und souverän zu reagieren: Ich
verorte den Vorfall innerlich auf einer „Wie schlimm ist das wirklich?“-Skala, um meine Reaktion anzupassen,
helfe bei der Einordnung seiner Emotionen,
erfrage die Absicht hinter der Handlung und/oder
reflektiere darüber, dass/warum mich bestimmte Verhaltensweisen des Kindes besonders triggern.1
Generell bin ich bemüht, meine Kinder nicht anzuschreien (außer in Gefahrensituationen). Ich möchte nicht, dass sie irgendwann Angst vor meiner Reaktion haben, wenn sie mal einen Fehler machen oder problematisches Verhalten an den Tag legen. Im Gegenteil: Unser Zuhause soll dafür ja gerade das Trainingslager sein — mit meiner Frau und mir als vertrauenswürdigen Coaches.
Mir ist bewusst, dass das viel verlangt ist. Aber ich zucke jedes Mal innerlich zusammen, wenn mein dreijähriger Sohn mich mit leicht besorgter Stimme fragt: „Bist du nicht wütend?“, nachdem ich ihn für irgendein Verhalten ermahnt habe – als würde er innerlich in Deckung gehen.
Ihm ist noch nie etwas widerfahren, was ihn tatsächlich dazu bringen könnte, sich ernsthaft vor einem wütenden Papa zu fürchten. Aber mir verrät meine Reaktion, wie groß mein Anspruch an mich ist, mit diesen Momenten so kompetent wie nur irgend möglich umzugehen.
Kintsugi für Beziehungen
Ich befürchte allerdings, dass es in den kommenden Jahren immer schwerer werden dürfte, diesem Anspruch gerecht zu werden. Aktuell haben wir nur ein Kita-Kind, das uns überhaupt nerven kann. Nur noch wenige Sonnenumläufe und wir haben es mit zwei Jugendlichen zu tun, die sowohl miteinander als auch mit uns mehr als genug Reibungsfläche finden dürften. Außerdem werden dann wahrscheinlich viel mehr Momente am äußersten Ende meiner „Wie schlimm ist das wirklich?“-Skala landen als bisher.
„Jedes Elternteil schreit sein Kind irgendwann einmal an.“ (Becky Kennedy)
Seit einigen Wochen lese ich „Das Buch, von du dir wünscht, deine Eltern hätten es gelesen“. Eines ihrer zentralen, wiederkehrenden Konzepte nennt Autorin Philippa Perry „Bruch und Reparatur“:
Sogenannte „Brüche“ – Momente der Entkopplung, fehlgeschlagenen Kommunikation oder gegenseitigen Verletzung – sind ihr zufolge in jeder wichtigen Beziehung unvermeidlich. Entscheidend ist daher, sich anschließend um „Reparatur“ zu bemühen.
In dieselbe Kerbe schlägt auch Becky Kennedy, eine auf Eltern- und Familienberatung spezialisierte klinische Psychologin, die sich den Spitznamen „Elternflüsterin“ erarbeitet hat. In ihrem TED-Talk sagt sie: Die Fähigkeit zur Reparatur solcher Brüche ist die wichtigste, die sich Eltern aneignen können – und eine, von der jede bedeutsame Beziehung profitiert.
Das ist nicht nur pragmatisch, weil reparaturbedürftige Fehler in Beziehungen aller Art vorprogrammiert sind. Diese Momente bieten darüber hinaus auch eine Chance für gewinnbringenden Austausch und Wachstum der Beziehung – beispielsweise, indem alle Beteiligten mehr über die Bedürfnisse oder Gefühlslagen des anderen erfahren.2
Ihre grobe Skizze, wie das ablaufen kann:
Benennen und Wieder-Aufrufen der Situation, um die es geht.
Einordnung / Verantwortungsübernahme für das Verhalten.
Änderung des eigenen Verhaltens in Aussicht stellen.
Im Kontext von Eltern und Kindern ist darüber hinaus besonders wichtig, das Kind mit dem Gefühlschaos nach einer unschönen Interaktion mit einem Elternteil nicht allein zu lassen. Kennedy zufolge manifestieren sich sonst schnell Narrative von Scham, mangelnder Liebenswürdigkeit oder Unfähigkeit, weil gerade junge Kinder keine andere Erklärung für wütende Eltern finden. Daher muss man ihnen unbedingt eine Erklärung anbieten – und kann zeitgleich vermitteln, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Fehlern aussieht und wie man aus ihnen lernt.
„Alle Eltern machen Fehler, und das Bemühen, sie zu korrigieren, zählt mehr als die Fehler selbst.“ (Philippa Perry)
Umdenken
Sowohl als Elternteil als auch in anderen Beziehungen scheine ich intuitiv davon auszugehen, dass ich von einem endlichen Vorrat an Wohlwollen des anderen zehre, wenn ich mich falsch verhalte. Also wähle ich meine Worte und, sofern möglich, meine Taten mit Bedacht.
Der Ansatz von Perry und Kennedy hilft mir, etwas gelassener in meine Rolle als Vater zu finden. Ich werde sicherlich immer bemüht sein, auf mögliches Fehlverhalten meiner Kinder in angemessener Art und Weise zu reagieren – welches Elternteil ist das nicht?
Aber mein Fokus verschiebt sich: Von der Vermeidung suboptimaler Interaktionen hin zur kompetenten Heilung von Fehlschlägen.
Das macht mich hoffentlich nicht nur zu einem fähigeren Vater, sondern könnte nebenbei auch dazu beitragen, dass andere wichtige Beziehungen in meinem Leben vergoldete Narben bekommen.
Laut Philippa Perry erinnern uns bestimmte Handlungen unserer Kinder auf emotionaler, unbewusster Ebene an Situationen aus unserer eigenen Kindheit, in denen wir mit ähnlichem Verhalten negative Reaktionen unserer Bezugspersonen hervorgerufen haben. Als Erwachsene reagieren wir unwillkürlich heftig, wenn wir vergleichbare Umstände wiedererkennen, weil wir als Kinder verinnerlicht haben, sie tunlichst zu vermeiden. Diese Momente, in denen unsere Reaktion uns selbst überrascht, können demnach Hinweise auf negative Erfahrungen aus der eigenen Kindheit sein, die man womöglich mit den eigenen Eltern besprechen sollte – aber jedenfalls nicht dem eigenen Kind vorwerfen kann.
Die Reparatur von problematischen Interaktionen kann Kennedy zufolge auch nach Jahrzehnten noch versucht werden. Auch - vielleicht gerade - eine heftig in Mitleidenschaft gezogene Beziehung kann davon profitieren, sich ernsthaft um Heilung zu bemühen.