weiterdenken #42: Vorausschauendes Leben
Wir Menschen sind die einzigen Tiere, die weit in die Zukunft vorausdenken können. Aber die Erkenntnisse daraus lassen uns viel zu oft unbeeindruckt - bis es zu spät ist.
Bei aller Intelligenz, die uns Menschen aus dem restlichen Tierreich hervorhebt, schaffen wir es doch immer wieder, uns außerordentlich dumm anzustellen.
“Die Dummheit - sie ist die große Konstante der menschlichen Geschichte, die einzige Weltmacht, die seit Jahrtausenden Bestand hat: Könige, Päpste und Präsidenten kamen und gingen, Gesellschaften entstanden und zerfielen, Wahlprogramme wurden geschrieben und vergessen die Dummheit blieb. Revolutionen konnten ihr ebenso wenig anhaben wie Naturkatastrophen, Weltkriege oder Finanzkrisen.
Zwar gab es immer wieder hoffnungsvolle Ansätze, das Zusammenleben der Menschen vernünftiger zu gestalten, doch solche Experimente waren selten von Dauer. Die mächtige Internationale der Doofen, der Engstirnigen, der ewig Gestrigen, der hoffnungslos Zurückgebliebenen kehrte schon bald wieder zurück ans Dirigierpult der Geschichte und gab den debilen Takt vor, nach dem die Verhältnisse zu tanzen haben.”1
Diese Dummheit erstreckt sich auf zahlreiche Aspekte des Mensch-seins. Im heutigen Newsletter soll es aber nur um einen gehen: Um unsere Unfähigkeit, vorausschauend zu handeln, wenn es um viel geht.
Was ist los mit uns?!
Jeder von uns erlebt sich durchaus vorausschauend:
Beim Autofahren wählen wir Geschwindigkeit und Abstände üblicherweise so, dass wir rechtzeitig bremsen oder ausweichen könnten, wenn es nötig wird.
Versicherungen, Altersvorsorge und Sparpläne helfen uns dabei, Geld langfristig beiseite zu legen, damit es verfügbar ist, wenn wir es dringend brauchen.
Tägliches Zähne putzen, regelmäßige Arztbesuche und dergleichen sind Investitionen in unsere langfristige Gesundheit.2
All diese Beispiele haben aber eins gemeinsam: Ihre Einhaltung wird in irgendeiner Form mit Nachdruck oder sogar Zwang erreicht.
Das korrekte Fahrverhalten wird in der Fahrschule gelehrt, ist im Straßenverkehrsrecht hinterlegt und wird durch Strafandrohung durchgesetzt.
Einige Versicherungen sind verpflichtend abzuschließend. Alters- und Gesundheitsvorsorge sind fest in Sozialsystem und Kultur verankert.
Sobald kein Zwang mehr vorhanden ist, verhalten wir uns oft erschreckend unvernünftig:
Körperliche Leiden werden trotz guter Therapie-Optionen verschleppt, bis ein langwieriges Problem daraus entstanden ist.
Lügen werden angehäuft und durch noch mehr Lügen aufrecht erhalten, bis beim unvermeidlichen Bekanntwerden immenser Schaden entsteht.
Schulden und Rechnungen bleiben unbeglichen, bis man in ernsten finanziellen oder rechtlichen Schwierigkeiten ist.
Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Entstehung antibiotika-resistenter Krankheitserreger werden sehenden Auges ignoriert, bis daraus Katastrophen geworden sind.
Sowohl individuell als auch in Gruppen oder ganzen Gesellschaften fällt es uns erschreckend schwer, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um ein bevorstehendes Problem abzuwenden oder zumindest abzumildern.
Wenn diese Formulierung merkwürdig bürokratisch klingt (ich habe mir schon verkniffen, irgendwas von “Schadenseintritt und -vertiefung” zu schreiben), dann liegt das daran, dass mein Berufsstand - die Polizei - genau wie andere Organisationen mit taktischem Sprachgebrauch einen Begriff für vorausschauendes Handeln haben:
Vor die Lage kommen
“Mit „vor die Lage kommen“ ist […] gemeint, etwas zu vermeiden das noch nicht eingetreten ist und nicht eintreten soll. Es steht […] für Vorwegnahme durch Antizipation und Vermeidung.”3
Als Führer eines Kraftfahrzeugs wollen und sollen wir vorausschauend fahren. Als Lenker der eigenen Biographie sollten wir danach streben, vorausschauend zu leben.
Das Thema ist zu komplex, um es in einem Newsletter erschöpfend zu behandeln. Aber dieses warten-bis-die-seit-langem-absehbare-Katastrophe-eingetreten-ist-Muster nervt mich zunehmend - an mir selbst wie auch an anderen. Ich möchte dafür Erklärungen und vor allem Lösungsansätze finden und weitergeben.
Für heute kann ich nur eine (ziemlich offensichtliche) Empfehlung mitliefern:
Regelmäßige Konferenzen mit sich selbst und anderen
Aus meiner Sicht braucht jeder Mensch
irgendeine Art von regelmäßiger Reflektionspraxis seines Alltags (Tagebuch, ausführliche digitale Kalender-Einträge, wöchentliche Gespräche mit Freunden oder Familie, Psychotherapie o.ä.) und
wiederkehrende Zeitfenster, um sowohl nur für sich als auch mit anderen Menschen, mit denen man zusammenarbeitet (Partner, Kinder/Eltern, Team-Mitglieder) die nächsten Wochen und Monate vorauszuplanen.
Es braucht überhaupt erst einmal Gelegenheiten für die Feststellung, dass man vom Kurs abgekommen ist oder auf ein Problem zusteuert.
Und es braucht Anhaltspunkte, an denen man das festmachen kann. Reflektionsfragen wie diese können helfen:
Wenn ich das, was ich heute gemacht habe, jeden Tag wiederhole, wo stehe ich dann in drei/sechs/zwölf Monaten?
Wo möchte ich in drei/sechs/zwölf Monaten sein? Führe ich mein Leben wie jemand, der das schaffen kann?
Was hält mich davon ab, mich dem Problem zu stellen, das ich schon lange erkannt habe?
Hinter dem Zögern, sich einer Herausforderung zu stellen, stehen oft wirkmächtige psychologische Faktoren wie Angst, Selbstzweifel oder sogar Trauma.
Es braucht daher oft Mut, sich einer herannahenden Katastrophe entgegen zu stemmen.
Aber: Je regelmäßiger und systematischer man herannahende Probleme durchdenkt, umso mehr verlieren sie ihren Schrecken und schrumpfen auf To-Do-Listen-Größe.
aus “Keine Macht den Doofen” von Michael Schmidt-Salomon
Bei Zahnseide, regelmäßigem Stretching oder dem gezielten Training der stabilisierenden Muskulatur hört der Spaß allerdings auf.