Dieser Text entsteht in Kollaboration mit : Während ich mich bemühen werde, meine Vorliebe für das Schreiben mit Stift und Papier zu begründen, schreibt sie parallel in ihrem Newsletter das „Lob des digitalen Schreibens“.
Daher die Bitte: Sobald ihr meinen Text gelesen habt, lasst euch von Kathrin einige der Vorzüge des Schreibens mit digitalen Tools erläutern.
Die Arbeit von professionellen Künstlern - Maler, Designer1, Architekten, Bildhauer - beginnt oft in einem Skizzenbuch: Die ersten Skizzen behandeln die groben Konturen, die ungefähre Anordnung, die grundsätzliche Idee. Es wird viel herumprobiert und wieder verworfen; dieser Teil des kreativen Prozesses wird meist niemandem gezeigt, daher spielt Perfektionismus auch keine Rolle. Die Erarbeitung der Formen ist spielerisch und chaotisch, ohne jeden Anspruch auf Brauchbarkeit.
Ist die ungefähre Idee eingegrenzt, folgt die Verfeinerung — auch das oft immer noch im Skizzenbuch. Jetzt werden genaue Proportionen und Formen ausgearbeitet; die genauen Konturen werden erkennbar.
Erst nach einigen Durchgängen des Erarbeitens und Überarbeitens verlässt der Kreativschaffende den geschützten, wertungsfreien Raum seines Skizzenbuches und beginnt das eigentliche Kunstwerk. Auch in dieser Phase sind noch Abweichung von den letzten Skizzen möglich; Essayisten und Schriftsteller werden beispielsweise gelegentlich davon überrascht, dass sich ihr Text vor ihren Augen zu verselbstständigen scheint, eine Art Eigenleben entwickelt.2 Aber im Grundsatz ist das angedachte Ergebnis zu diesem Zeitpunkt so ausgiebig in den Seiten des Skizzenbuches erkundet und ausgeschärft worden, dass bei der Erstellung des eigentlichen Kunstwerkes nur noch sehr wenig dem Zufall überlassen bleibt.
Die zentrale These dieses Textes lautet: Ein analoges Notizbuch für Schreibende kann für die Erstellung umfangreicher Texte das sein, was für die Erschaffung eines Bildes auf Leinwand oder das Design eines Gebäudes das Skizzenbuch ist.3
Ein solches Skizzenbuch für Texte — international als „Writer‘s Notebook“ bezeichnet — bietet einige deutliche Vorteile gegenüber vorrangig digitalen schreiberischen Arbeitsabläufen.
“Das Skizzenbuch macht eine Menge für dich, aber es macht nichts mit dir.”
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Vorweg aber folgende Klarstellungen:
Unter „analogem Schreiben“ stellt sich der eine oder die andere womöglich vor, dass ganze Artikel oder gar Buchmanuskripte komplett handschriftlich verfasst werden. Es gibt Autoren, die das tatsächlich bis heute so praktizieren (beispielsweise der Fantasy-Autor Neil Gaiman oder der Poet und Essayist David Whyte). Ich meine damit aber vor allem das Anfertigen handschriftlicher Notizen und sonstiger Kritzeleien sowie erster Formulierungen von Text-Passagen mit Stift und Papier.
Kathrin hat nämlich recht: Jeder moderne Autor muss irgendwann die Finger auf die Tastatur legen und eine digitale Version seines Textes produzieren, wenn er ihn in irgendeiner Form veröffentlichen will.Ich bin ein großer Fan digitaler Produkte — in meinem Fall v.a. Obsidian, Readwise und OneNote — und ermuntere jeden, mit viel Herumexperimentieren seinen persönlichen Workflow zu entwickeln. Ich bin nur ein noch größerer Fan von analogen Produkten — aus den folgenden Gründen:
Denken durch den Stift
Ich habe schon lange eine gewisse Grundbegeisterung für schöne Schreibwaren — insbesondere für Notizbücher. Seit 2019 nutze ich Bullet Journals für eine Mischung aus Tagebuch, Reflektionspraxis und Aufgabenmanagement. Aber ich habe parallel immer auch Handy und Computer genutzt, um meinen Alltag zu bewältigen.
Nun aber, wo im Zusammenhang mit meiner schreiberischen Tätigkeit das gründliche, methodische und ergebnisorientiere Denken, das konzentrierte Arbeiten mit Ideen und Konzepten, mit Literatur und Struktur, aber auch das gezielte Produzieren von Texten zwischen den Fristen dieses Newsletters zu einem bedeutsamen Teil meines Alltags geworden ist, haben sich Handy und Computer zunehmend als problematische Verbündete erwiesen.
Insel der Ruhe
Jede Interaktion mit Handy oder Computer birgt das Risiko, auf mannigfaltige Art und Weise abgelenkt zu werden: Benachrichtungen irgendwelcher Apps, Eilmeldungen und Nachrichten, Dopamin-Spritzen von Instagram, TikTok & Co, Chatgruppen, Online-Diskussionen auf Twitter X, Handy- oder Computerspiele und vieles mehr zerren an unserer Aufmerksamkeit und halten uns von dem ab, was wir eigentlich erledigen wollen.
Ein Notizbuch oder ein Abreißblock für To-Do-Listen tun das nicht. In Kombination mit Noise-Cancelling-Kopfhörern kann man sich schnell einen Rückzugsraum zum Denken schaffen, in den der Lärm der digitalen Außenwelt nicht hineinreicht. Der Effekt fühlt sich manchmal an wie ein Spaziergang in menschenleerer Natur, ohne Motorengeräusche oder zivilisatorische Gerüche im Kontrast zum Straßenlärm einer Großstadt. Plötzlich kann das Gehirn durchatmen; die Reizarmut legt kognitiven Raum, den Ideen füllen können.
Natürlich kann man auch am Handy oder PC eine ähnlich ablenkungsfreie Arbeitsumgebung schaffen — aber dafür muss man immer erst einmal aktiv gegen das Gerät vorgehen, muss die Ablenkungs-Bemühungen der Technik-Konzerne abblocken und die Disziplin aufbringen, die einmal geschaffene Ruhe nicht wieder zugunsten von einem schnellen Computerspiel oder einem kurzen Blick ins soziale Netzwerk aufzuweichen.
Ein Notizbuch hat einen eingebauten, nicht löschbaren und zu 100% zuverlässigen Ablenkungsfilter.
Daneben ist man mit einem Notizbuch nicht auf Strom, Software oder WLAN angewiesen, muss keine Angst vor Hackern haben und sich nicht um Datenschutz sorgen. Man kann einfach schreiben.
“Die Leute sagen, es sei gut, vom Bildschirm wegzukommen. Aber niemand sagt, es wäre gut, von Stift und Papier wegzukommen.”
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Energie-Einsatz am Anfang oder Ende?
Das Ausarbeiten von ersten Ideen, Gliederungen, Formulierungen und Argumentationsketten auf Papier erscheint — jedenfalls im Vergleich zur Arbeit auf einer Computertastatur — zunächst ineffizient: Man schreibt langsamer, man kann Fehler nicht einfach weglöschen, Ergänzungen lassen sich nicht einfach einfügen, das Verschieben von ganzen Textpassagen ist grundsätzlich unmöglich.6
Aber gerade diese Ineffizienz sorgt dafür, dass das Schreiben nicht einfach nur die Dokumentation des Denkprozesses bleibt, sondern Teil des Denkens wird. Der Stift macht ganz andere Ausdrucksformen zugänglich, die einem an der PC-Tastatur vorbehalten bleiben: Kurze Zeichnungen und Skizzen, Symbole, Hervorhebungen, Linien und Pfeile holen das Denken mit der Hand (Motto meiner Lieblings-Notizbuch-Marke Leuchtturm1917) sehr viel näher an den chaotischen, nicht-linearen Denkspiralen, die unser Gehirn dreht, wenn wir ein Thema mit uns selbst erörtern.
In der Ratgeber-Literatur für Eltern findet man immer sinngemäß immer wieder folgende Aussage: Entweder investierst du am Anfang sehr viel Energie und hast es am Ende leicht, oder du machst es dir am Anfang leicht und investierst am Ende viel Energie.
Ich habe die Theorie, dass es mit dem handschriftlichen Erarbeiten im Kontrast zum digitalen Schreiben ähnlich ist: Mit dem Konzipieren erster Ideen, Konzepte, Szenen, Formulierungen etc. von Hand nimmt man einige Denkarbeit vorweg, die beim rein digitalen Arbeiten bei den ersten Überarbeitungen passieren muss. Das muss nicht schlechter sein, aber wie eben angedeutet, habe ich zunehmend den Eindruck, dass es anders geschieht.
Das analoge Skizzieren und Entwerfen ist daher, so meine Vermutung, tatsächlich gar nicht wirklich ineffizient, sondern bietet eine versteckte Effizienz: Setzt man schließlich zum finalen Niederschreiben des eigentlichen Textes an, braucht man — ähnlich wie der Künstler oder Architekt, der vom Sketchbook an den Computer wechselt — weniger Überarbeitungs-Runden, um ans selbe Ziel zu kommen.
Darüber hinaus arbeitet man auf diese Weise auch auf der Grundlage einer gründlicheren, mehrdimensionalen, loseren Denkarbeit — und kommt damit näher an das Bestmögliche heran, das man zu produzieren in der Lage ist.7
Man denkt in Schreibgeschwindigkeit — und schreibt in Denkgeschwindigkeit.
Genuss als Motivator
Auf Instagram, Pinterest, YouTube und anderen Internet-Ecken der schönen Bilder findet man unzählige Aufnahmen von Sketchbooks, Bullet Journals und Pocket Notebooks. Sie werden abfotografiert, vor laufender Kamera mit neuen Inhalten befüllt oder nach Fertigstellung durchgeblättert.
Habt ihr schon mal ein Video gesehen, auf dem jemand stolz seine digitalen Obsidian-Notizen oder sein chaotisches Word-Dokument durchscrollt? Genau.
Zur Wahrheit gehört: Das Arbeiten in guten Notizbüchern und Stiften bereitet einfach Freude. Wenn man zunächst einfach nur irgendwelche billigen Artikel verwendet hat, um sich auszuprobieren — wozu ich fast immer raten würde — sorgt der Umstieg auf einen ordentlichen Stift sowie gutes Papier in einem hochwertigen Notizbuch für einige Glücksgefühle.
Das Knistern der Notizbuchseiten; die leichten Wellen, die sie nach mehrfachem Anfassen werfen; eingeklebte Post-It-Zettel, herausgerissene und eingeklebte Seiten aus einem anderen Notizbuch — ein Writer‘s Notebook verspricht, ein Unikat zu werden, wo der Computer nur eine Textdatei anbieten kann.
Diese haptische und ästhetische Seite des analogen Arbeitens spielt für mich eine große Rolle. So merkwürdig das klingen mag, aber: Schon das Durchblättern meines Journals und meiner Notizbücher bereitet mir Freude, was dazu beiträgt, dass ich tatsächlich sehr regelmäßig darin blättere und lese. Dadurch habe ich meine Notizen immer wieder vor Augen, kann neue Verknüpfungen und Ergänzungen vornehmen und bin in stetiger Auseinandersetzung mit meinen dokumentierten Ideen.
Digitale Notizen haben dagegen die unerfreuliche Angewohnheit, unter dem Berg neuerer Notizen unterzugehen und nur noch selten wieder geöffnet und gelesen zu werden, solange man nicht gezielt sucht.
Dazu kommt: Beim Arbeiten in einem Notizbuch fördert man ein bestimmtes Selbstbild, ein Selbsterleben. Indem man bewusst Abstand nimmt von digitalen Versuchungen und Versprechungen, von Services, die einem das Denken abnehmen und das Schreiben erleichtern, entscheidet man sich gezielt für mühsame, gründliche, eigenständige Denkarbeit.
Das soll nicht heißen, dass man es sich beim digitalen Schreiben einfach macht. Schreiben und Denken bleiben einem auch dort nicht erspart und sind auch dort nicht einfach.
Aber die Selbstwahrnehmung, die Identität, die man stärkt, wenn man nur mit einem Notizbuch und einem Kaffee in einem Park sitzt und nachdenkt, ist ein anderes, als wenn man in einem Café einen Laptop mit dem WLAN verbindet, die VPN aktiviert und direkt in den Substack-Editor schreibt.
Tipps und Techniken
Ich habe viel zu viele verschiedene Notizbücher und zu jedem davon zu viele Tipps, um hier ernsthaft in die Tiefe zu gehen. Aber im Zusammenhang mit dem hier beworbenen analogen Arbeiten an Texten möchte ich ein paar Empfehlungen mitgeben:
Für Notizbücher aller Art
Es ist ein Werkzeug, keine Reliquie. Wenn dich die Qualität oder der Preis davon abhalten, einfach drauflos zu schreiben, dann entperfektionalisiere das Notizbuch zunächst: Klebe Sticker vorne drauf; schütte ein paar Tropfen Kaffee auf die nutzlose dicke Karton-Seite ganz vorne, und lass sie eintrocknen; schreib deinen Namen vorne rein und gib dem Notizbuch gleich auch einen.
Starte an beiden Enden. Es finden sich viele kreative oder praktikable Anwendungsfälle, in denen man das Notizbuch einfach von beiden Seiten beginnt. Ich führe meine Aufgabenliste im Büro beispielsweise in einem Notizbuch: Vorne die Aufgaben mit den wichtigsten Daten, hinten auf nummerierten Seiten ausführlichere Informationen, auf die ich verweisen kann.
Apropos:
Nutze Verknüpfungen. Sowohl Eintragungen auf einer Doppelseite als auch verschiedene Seiten können mithilfe passender Symbole miteinander verknüpft werden. Auf einer Doppelseite nutze ich eingekreiste Kleinbuchstaben, verschiedene Seiten verbinde ich mit Pfeilen und eingekreisten Seitenzahlen. Hier ein Beispiel aus meinem Writer‘s Notebook:
Writer‘s Notebook und Universal-Notizbücher
Sowohl für das „Skizzenbuch für Schreibende“, das ich weiter oben beworben habe, als auch für sogenannte catch-all-Notizbücher — meistens kleine A6-Notizhefte, die man für schnelle Notizen aller Art griffbereit hat — habe ich einen besonders wichtigen und vielleicht ungewöhnlichen Tipp:
Notizen nur auf einer Seite. Die andere Seite frei lassen für
passende Zitate,
Anschlussfragen,
Recherche-Ideen,
Quellen-Angaben,
spätere Verknüpfungen,
Korrekturen oder Ergänzungen etc.
Das wirkt zunächst wie Platzverschwendung, macht sich aber schnell bezahlt, wenn man dieselben Notizen — idealerweise ausgestattet mit einem Textmarker und/oder einem Stift in einer anderen Farbe — immer wieder durchblättert und sich in Erinnerung ruft: Plötzlich werden mögliche Verknüpfungen mit neueren Inhalten erkennbar, es tauchen neue Fragen auf usw.
In diesem Zusammenhang rate ich auch dazu, sich eine persönliche Legende mit Symbolen, Abkürzungen o.ä. zurechtzulegen. Insbesondere braucht man ein Zeichen dafür, dass man irgendetwas später recherchieren muss. So kann man „Ah, das muss ich noch nachlesen“-Einfälle, die einem während des Nachdenkens über den Text kommen, einfach auf die freie rechte Seite schreiben und mit der Recherche-Markierung versehen, dann aber sofort wieder zum eigentlichen Thema zurückkommen.
Falls du Lust bekommen hast, endlich eins der Notizbücher in Benutzung zu nehmen, die seit Ewigkeiten im Regal einstauben: Gern geschehen. Dein Gehirn wird es dir danken.
Und nun ab rüber zu und ihrem Text über die Vorzüge digitalen Schreibens. Und wenn ihr schon da seid: Verpasst ihrem Text gern ein Like, teilt ihn, wenn ihr mögt, und abonniert ihren Newsletter “Plotten für Chaoten”, wenn ihr Geschichten schreibt.
In professionellen Kreisen werden Autoren, die ohne vorherige Grobplanung schreiben, sondern sich von ihrer eigenen Geschichte überraschen lassen, „discovery writer” genannt.
Die Inspiration hierfür stammt aus dem Text „The Nonwriter‘s Guide to Writing A Lot“ von
, in dem er mit der folgenden Metapher versucht, Schreibenden die Idee auszutreiben, ein Text müsse in einem Anlauf geschrieben werden:„[A]rtists start with a rough sketch that captures the general idea for their composition. Then they go through and do a more detailed sketch, turning the rough lines into recognizable features, fiddling with proportions and placement until each element is arranged as they want.
Now imagine an artist who starts with a one-centimeter square in the top left corner of a blank page, insisting it should be perfect — every detail of line and color, flawlessly in place — before moving on to the next centimeter. This sounds ridiculous, because how could the artist hold the whole picture in their head without the aid of their sketches and guidelines? But… isn’t that what you’re doing to yourself when you demand that your writing should be done only once?“
Original-Zitat aus “Love Letter To Sketchbooks”: “The sketchbook does a lot for you, but nothing to you.”
Original-Zitat aus “Love Letter To Sketchbooks”: “People say it’s good to get away from the screen, but no one says it would be good to get away from pen and paper.”
Zur Klarstellung: Ich glaube, dass es für diese mehrstufige Erarbeitung von Inhalten irgendeine Form von kreativer, spontaner, anregender Externalisierung braucht. Das leisten wahrscheinlich aber auch Unterhaltungen oder Sprachnotizen an sich selbst oder digitale Sketchnotes.
Ich dachte, ich sein schon ein Notizbuch Pro - und hab trotzdem so gute, neue Anregungen gefunden! (Die 'Erlaubnis, von zwei Seiten her zu arbeiten. Seiten in andere Notizbücher wechseln lassen. Eine Seite frei lassen etc) Danke dafür!
Ein wunderbares Plädoyer! Und bei mir rennst Du damit offene Türen ein, ich bin auch eine echte Anhängerin des Notizhefts. 😍 Ich schreibe darin hauptsächlich - und recht wirr - meine Ideen auf. Die echten, zusammenhängenden Texte schreibe ich dann aber am Computer. Wegen der ach so praktischen Löschtaste. (Konzepte und Gliederungen gibt es bei mir eigentlich nicht...😉)