Ich habe in einem meiner frühesten Newsletter (Ausgabe 2) schon einmal die Arbeit eines philosophischen Poeten - David Whyte - gewürdigt. Ich kann es nicht erklären: Obwohl mein Kontakt zur Poesie bisher nur sehr begrenzt ist, ist ihr Effekt auf mich immer wieder überraschend heftig.
Das hat sich auch bestätigt, als ich auf meiner Suche nach Liedern oder Gedichten über Männlichkeit und Vaterschaft auf “If—” von Rudyard Kipling gestoßen bin. Das Gedicht enthält zahlreiche Empfehlungen und Idealvorstellung zum tugendhaften Leben in Konfrontation mit seinen Herausforderungen - und schlägt damit treffsicher in dieselbe Kerbe wie Ryan Holiday mit seinem modernen Stoizismus, mit dem ich mich derzeit schwerpunktmäßig auseinandersetze.
Da ich zuletzt einige englischsprachige Abonnenten gewonnen habe und außerdem finde, dass jeder dieses Gedicht kennen sollte, teile ich im heutigen Newsletter dieses wundervolle Stück Kunstgeschichte samt einiger Kommentare mit euch.
Für eine Extraportion Gänsehaut könnt ihr euch - am besten mit Kopfhörern - das Gedicht hier von Shane Morris vorlesen lassen:
If—
Rudyard Kipling
If you can keep your head when all about you
Are losing theirs and blaming it on you;
If you can trust yourself when all men doubt you,
But make allowance for their doubting too;1
If you can wait and not be tired by waiting;
Or, being lied about, don't deal in lies,
Or, being hated, don't give way to hating;
And yet don't look too good, nor talk too wise;2
If you can dream, and not make dreams your master;
If you can think - and not make thoughts your aim;
If you can meet with triumph and disaster
And treat those two imposters just the same;3
If you can bear to hear the truth you've spoken
Twisted by knaves to make a trap for fools,4
Or watch the things you gave your life to broken,
And stoop and build 'em up with worn-out tools;
If you can make one heap of all your winnings
And risk it on one turn of pitch-and-toss,
And lose, and start again at your beginnings
And never breathe a word about your loss;5
If you can force your heart and nerve and sinew
To serve your turn long after they are gone,
And so hold on when there is nothing in you
Except the Will which says to them: "Hold on";6
If you can talk with crowds and keep your virtue,
Or walk with kings—nor lose the common touch;7
If neither foes nor loving friends can hurt you;
If all men count with you, but none too much;8
If you can fill the unforgiving minute
With sixty seconds' worth of distance run,9
Yours is the Earth and everything that's in it,
And - which is more - you'll be a Man, my son!10
Zwei der sichersten Zeichen einer gereiften und gefestigten Persönlichkeit:
- Ruhe bewahren können, selbst wenn es sonst niemand tut und die Situation einem vorgeworfen wird;
- Selbstbewusst zu den eigenen Überzeugungen stehen, Kritik und Widerspruch aber annehmen und erwägen können
Hier geht es um Geduld (“wait and don’t be tired of waiting”), Integrität (nicht lügen, wenn über einen gelogen wird; nicht hassen, wenn man gehasst wird) sowie Demut bzw. die Vermeidung von Großspurigkeit (“don’t look too good, nor talk too wise”)
Träume und Gedanken willkommen heißen, aber ihnen nicht zu viel Gewicht einräumen; sowohl großer Erfolg als auch heftige Rückschläge sind flüchtig und sollen einen nicht aus der Bahn werfen
knave: alt-englisches Wort für einen unehrlichen Mann/Jungen
→ Ertragen können, wenn das, was man gesagt hat, verdreht oder verfremdet wird (“twisted by knaves”), um einfältige Menschen in die Irre zu führen (“make a trap for fools”);
Sechs Zeilen voller Stoizismus: Selbst über den Verlust eines Lebenswerkes (“the things you gave your life to” / “one heap of all your winning”) soll man sich nicht aufregen (“never breathe a word about your loss”), sondern von Neuem beginnen (“build’ em up with wornout tools” / “start again at your beginnings”); erinnert mich an die Anekdote über den Erfinder Thomas Edison, der beim Anblick des Feuers, das seine gesamte Fabrik zerstörte zu seinem Sohn gesagt haben soll: “Hol’ deine Mutter und alle ihre Freunde! So ein Feuer sehen sie nie wieder,”
Etwas schwer verständlich: Kipling geht es hier um Resilienz, um die Fähigkeit, selbst dann durchzuhalten, wenn es emotional (“heart”) und körperlich (“nerve and sinew”) unmöglich scheint (“hold on when there’s nothing in you”)
Auch hier nochmal zu Integrität: Im Gespräch mit “normalen Menschen soll man an seinen Werten festhalten (“talk with crowds and keep your virtue”), im Kontakt mit “wichtigen Menschen” soll man nicht abheben ("“walk with Kings—nor lose the common touch”)
Sich Verletzungen durch Feinde oder Freunde nicht zu sehr zu Herzen nehmen; Menschen schätzen, aber nicht überschätzen
Eine weitere stoizistische Kern-Idee: Vergänglichkeit → Jede Minute ist kostbar (“the unforgiving minute”) und soll daher bis zur letzten Sekunde genutzt werden; siehe Memento mori, Tempus fugit und Carpe diem
In dem Gedicht spricht ein Vater zu seinem Sohn - aber es kommt keine Qualität oder Idealvorstellung zur Sprache, die nicht genauso für Frauen bzw. Töchter gelten können.