#54: Vergleichsrichtungen
Wer sich nur nach oben oder unten vergleicht, macht es sich unnötig schwer.
Kürzlich spülte mir der Instagram-Algorithmus ein kurzes Video vor die Augen, in dem ein junges Kind mitten in einem Tobsuchtanfall zu sehen ist:
Laut Videobeschreibung hatte die Mutter das belegte Brot des Jungen falsch geschnitten – augenzwinkernder „Wer kennt es nicht?“-Content für junge Eltern, denen solche Ausraster aufgrund einer Bagatelle bekannt vorkommen dürften.1
Die Kommentare unter diesem Video waren allerdings teils haarsträubend.
Einige Kostproben:
„Lass ihn einfach schreien und geh‘ weg. Wenn er Hunger hat, wird er das Sandwich schon essen.“
„Ich packe mein Kind in diesen Momenten in sein Zimmer, bis es sich beruhigt hat. Danach höre ich auch zu.“
„Man darf in diesen Momenten nicht klein beigeben, sonst belohnt man solches Verhalten. Wenn Kinder einmal gelernt haben, dass sie auf diese Weise bekommen, was sie wollen, hast du verloren.“
Der Blick nach unten
Ich habe schon einige Male darüber geschrieben, wie wichtig es sein kann, sich mit gut genug zufrieden zu geben und nicht nach bestmöglich oder gar perfekt zu streben (zuletzt hier und hier).
Das liegt nicht zuletzt daran, dass ich es für eine enorm wichtige Fähigkeit für mehr Lebenszufriedenheit halte – und selbst regelmäßig damit ringe. Gerade in Bezug auf die Pflege meiner engsten Beziehungen – der zu meinen Kindern und zu meiner Ehefrau – versichert mir mein innerer Kritiker regelmäßig, dass ich unterqualifiziert oder unzureichend bin.
Die vielen furchtbaren Kommentare unter dem erwähnten Video haben mich aber daran erinnert, dass ich bei meiner Selbsteinschätzung regelmäßig einen offensichtlichen Fehler mache:
Ich vergleiche nur nach oben.
Derek Sivers sagt treibt seinen Sohn niemals an, sondern lässt ihn immer so lange tun, was er gerade tut, bis er damit fertig ist.
Ryan Holiday verbringt die ersten 90 Minuten eines Tages ohne Handy, sondern unternimmt einen langen Spaziergang mit den Kindern.
Von diesen Vätern lerne ich viel über moderne Vaterschaft – aber ich nehme sie mir auch unbewusst zum Vorbild. Ich erhebe ihr Handeln zum Maßstab für gutes Handeln und gleiche mein Verhalten damit ab.
Es ist leicht, in diesen Modus zu rutschen: Ob bei einer künstlerischen oder kreativen Tätigkeit, als Elternteil oder im Beruf: Hat man Ambitionen, sehr gut zu werden, lässt man sich von Menschen inspirieren und informieren, die weiter sind als man selbst.
Man bekommt ständig vor Augen geführt, wie viel besser man noch sein könnte — und verliert dabei aus dem Blick, wie gut man schon geworden ist oder wie viel schlechter man sein könnte.
Es mag anspruchsvoll sein, die Güte einer Lebenspartnerschaft oder die Qualität von Eltern zu messen. Aber ich brauche nicht viel Vorstellungsvermögen, um mich daran zu erinnern, dass ich ein dramatisch schlechterer Ehemann sein könnte. Und es braucht manchmal nur ein paar gruselige Kommentare auf Instagram, um mein Selbstbild als Vater wieder zurecht zu rücken.
Der Blick nach oben
Ein Aspekt meines persönlichen Lebens, in dem ich bis vor wenigen Jahren fast nur nach unten verglichen habe, ist Geld bzw. materieller Besitz.
Bis in meine späten 20er Jahre war ich geradezu stolz2 auf meine schulterzuckende, selbstverständliche Zufriedenheit mit meinen auskömmlichen Beamten-Bezügen. Der Vergleich nach unten (in diesem Fall das Bewusstsein, zur obersten Einkommensschicht eines der reichsten Länder der Erde zu gehören) erstickte jede Ambition, Geld anzulegen, anzusparen oder gar ein Nebeneinkommen zu erschließen.
Jetzt, wenige Jahre, zwei Kinder und einen Hauskauf später, richtet sich mein Blick (etwas zu spät) nach oben: Wie viel entspannter könnte meine Situation, wie viel niedriger meine Anspannung sein, wenn ich etwas mehr Energie in meine finanzielle Gesamtsituation investiert hätte?
Im Zweifel ist es besser, Geld zu haben und nicht dringend zu brauchen, als es dringend zu brauchen und nicht zu haben.
Dasselbe gilt beispielsweise auch für eine gute Gesundheit oder ein paar enge Freundschaften. Dankbarkeit und Wertschätzung für solche Dinge entwickelt man erst so wirklich, wenn sie durch eine herausfordernde Situation geholfen haben – oder plötzlich weg sind.
Als Antrieb für eine bessere Vorsorge, ob nun in Sachen Finanzen, Fitness oder Freundschaften,3 ist der gezielte Abgleich mit Menschen, die in einer besseren Situation sind als man selbst, auf jeden Fall hilfreich.
Beruhigung oder Beschleunigung?
Der Vergleich nach unten verhilft zu mehr Zufriedenheit, Dankbarkeit und Wertschätzung des eigenen Ist-Zustandes.
Für Motivation und Inspiration, für Ansporn und eigene Weiterentwicklung braucht es den Vergleich nach oben.
Dabei ist der Widerspruch zwischen Zufriedenheit mit der Gegenwart und Antrieb zur Weiterentwicklung nur schwer aufzulösen.
Man muss sich also entscheiden: Möchte man sich emotional zurücklehnen oder aus dem Sessel katapultieren lassen? Je nachdem, was man gerade braucht, hilft der bewusste Vergleich in eine der beiden Richtungen.
Tägliche unnötige Alliteration: ✔️