Vor kurzem habe ich meinen Bruder am Flughafen verabschiedet, bevor er in ein anderes europäisches Land umgezogen ist (Grüße gehen raus, Bruderherz 👋).
So bittersüß solche Abschiede auch immer sein mögen, freue ich mich doch sehr für ihn. Er tritt seinen gewünschten neuen Job an - und bekommt eine fantastische Chance, die ein solcher Neustart in einer fremden Umgebung mit sich bringt:
Er kann sich sprichwörtlich neu erfinden.
Die Wissenschaft hinter dem Neubeginn
Im Jahr 2012 folgte Katy Milkman, damals eine junge Assistenzprofessorin an der Wharton School of Economics, einer Einladung ins Google Mountain View Headquarter. Ihre Gastgeber, die Führungsriege der HR-Abteilung, erhofften sich von der jungen Forscherin wissenschaftlich fundierte Tipps, um Google-Mitarbeiter zuverlässiger beim Ausbilden von neuen, gesünderen Routinen zu helfen.
Dabei wurde ihr eine Frage gestellt, die sie nicht aus dem Stand beantworten konnte: Wann ist der beste Zeitpunkt, um die Mitarbeiter bspw. zur vermehrten Nutzung des firmeneigenen Fitness-Studios zu animieren.
Milkmans Interesse war geweckt. Aus ihrer anschließenden Suche nach der Antwort auf die Frage nach dem idealen Timing für Verhaltensänderungen folgten diverse wissenschaftliche Forschungsarbeiten.
Die Erkenntnisse daraus beschreibt Milkman unter dem Begriff Fresh Start Effect.
Milkman erläutert, Menschen würden ihr Leben nicht als eine fortlaufende Kette von Ereignissen erfassen, sondern - ähnlich eines Charakters in einem Buch - in größeren und kleineren Kapiteln.
Jedes Mal, wenn ein solches neues Kapitel beginnt, lassen wir in gewisser Weise das “Alte Ich” hinter uns, können ein Stück weit mit früherem Fehlverhalten abschließen und starten in eine neue Etappe der Entwicklung unseres Charakters.
“We’re more likely to pursue change on dates that feel like new beginnings because these moments help us overcome a common obstacle to goal initiation: the sense that we’ve failed before and will, thus, fail again. [….]
These new beginnings can also lead us to pause, reflect, and think about the bigger picture, which makes us more likely to consider trying to make a change.”
Katy Milkman in “How To Change” (S. 32)
Neustarts finden
Manche dieser neuen Kapitel entstehen ganz natürlich:
Nicht nur der erste Tag eines Monats, sondern jeder Montag bietet die Gelegenheit für einen kleinen Neubeginn.
Die Klassiker: Gute Vorsätzen zum neuen Jahr.
Jubiläen wie der Jahrestag oder Hochzeitstag bieten immer wieder Gelegenheit, sich einander zu besinnen und die Beziehung neu mit Dankbarkeit und Liebe anzureichern. Vielleicht ein neues gemeinsames Ritual einführen?
Aber man kann solche Neustarts auch bewusst entstehen lassen. Milkman hat u.a. folgende Gelegenheiten als sinnvolle fresh start-Momente identifiziert:
Jobwechsel oder Umgestaltung des Arbeitsplatzes,
eine neue Route zur Arbeit nehmen,
das Home Office in unterschiedliche Coffee Shops verlegen oder
in ein anderes Land umsiedeln. Und damit zurück zu meinem Bruder:
Neustarts als Hindernis
Eine große Gefahr bei diesen Neustarts ist, dass man sich zu viel vornimmt. Neben den regelmäßig scheiternden Neujahrsvorsätzen kann auch eine Zäsur wie der neue Job oder der Umzug in eine völlig neue Umgebung dazu einladen, es mit dem “sich neu erfinden” zu übertreiben.
Wichtig ist, sich zunächst kleine, problemlos erreichbare erste Ziele zu setzen. Ein Neubeginn liefert Schwung, um in ein neues Vorhaben hinein zu finden. Für langfristigen Erfolg ist aber entscheidend, diesen Schwung beizubehalten - und dafür braucht es immer wieder Erfolgsmomente.
Eine weitere “dunkle Seite” des Neustart-Effektes hat Hengchen Dai, eine von Milkmans engsten Forscher-Kolleginnen identifiziert: Für Menschen, die bereits sehr gesunde oder zufriedenstellende Routinen und Standards etabliert haben, kann die Veränderungsenergie aus einem Neustart für eine problematische Unterbrechung sorgen, nach der sie lange nicht in ihren positiven Rhythmus zurückfinden.
“Not everyone benefits from a fresh start. When you’re on a roll, any disruption can be a setback. […]
[W]hile fresh starts are helpful for kick-starting change, they can also be unwelcome disruptors of well-functioning routines. Anyone seeking to maintain good habits should beware.
Katy Milkman in “How To Change” (S. 32)
Mein Bruder war bspw. zuletzt sehr zufrieden mit seinem Sozialleben und der Regelmäßigkeit, mit der er Zeit mit Freunden und Familie verbracht hat. Dagegen war er unzufrieden mit seinem Sportpensum und seiner Ernährung.
Das ist eine nahezu idealen Grundkonstellation für einen solchen Neubeginn:
Er kann (und möchte) einen harten Schnitt machen, ab dem er wieder vermehrt auf seinen Lebensstil Acht gibt. Zugleich sorgt die völlig neue Umgebung fast schon notgedrungen dafür, dass er jede Menge spannende neue Leute kennenlernt und viel Zeit unter Gleichgesinnten verbringt.
Mein Bruder ist tatsächlich das wandelnde Beispiel für die enorme Wirkkraft des Neustart-Effektes: Aus seinem Auslandssemester kam er fucking verwandelt zurück. Seinem gesamten Freundes- und Verwandtenkreis in Deutschland ist nach seiner Rückkehr kollektiv die Kinnlade herunter gefallen.
Mein Bruder ist etwas sehr Besonderes (😘), aber was er geschafft hat, hat nichts mit eiserner Willenskraft, sondern mit guten Anreizen, klaren und erreichbaren Zielvorstellungen und einer durchdacht gestalteten Alltags-Routine zu tun.
Also: Gibt es einen Bereich deines Lebens, in dem du dich gern weiterentwickeln würdest? Dann halte die Augen auf nach einem geeigneten Moment für einen frischen Neubeginn, setz’ dir einfache erste Zwischenziele - und los geht’s!