Dieser Text ist Teil einer unregelmäßigen Reihe zum Thema Erwachsenwerden, die ich in Ausgabe 79 aus der Taufe gehoben habe.
Mein Aufschlag zu dem Thema war Ausgabe 50.
Mein bisher wichtigster Text dazu ist „Die Erwachsenden“.
Weitergeführt wurde die Serie in den Ausgaben 71, 73 und 79 und 80.
„Deine Posts wecken in mir mehr und mehr Mitgefühl mit Menschen, die sich zwanghaft Lebensfreude versagen. Wo bleibt bei alldem denn der Spaß, die Lust, die Gelassenheit, der Humor?“ - Facebook-Kommentar zu meinem Post zu Ausgabe 73
An dem Wochenende, an dem diese Ausgabe erscheint, haben bundesweit viele Familien die Einschulung eines Kindes gefeiert – so auch eine eng befreundete Familie von uns, zu deren Feier wir eingeladen waren. Wann immer wir diese Familie besuchen, bringe ich mindestens ein Wechsel-Oberteil mit, denn jedes Mal gibt es eine ausgedehnte und schweißtreibende Rauferei mit den Kindern – erst recht, wenn anlässlich einer Einschulung gleich eine ganze Bande von rangelfreudigen Knirpsen anwesend und eine Hüpfburg verfügbar sind. So auch dieses Mal.
In der richtigen Gesellschaft und den passenden Momenten werde ich gern nochmal zum großen Kind. Dann bekleide ich die Rolle des spielerischen Sparringspartners für Kita- und Grundschulkinder wirklich gern. Genauso gern reiße ich im Kreise von Freunden oder Kollegen niveaulose Witze, bringe mit ehrlicherweise ziemlich guten diskutablen Wortwitzen und dad jokes meine Frau zum Augenrollen, heitere eine angespannte Stimmung mit einem Scherz auf oder lache Tränen über vielleicht nur mittelmäßige Comedy.
Das alles ändert nichts daran, dass ich inzwischen ziemlich großen Wert darauf lege, mich selbst als Erwachsenden1 zu erleben und von anderen als erwachsen wahrgenommen zu werden.
Ein erwachsenes Selbstbild und Grundverhalten schließt kindliches, albernes oder auch mal völlig unangemessenes Verhalten keineswegs aus. Im Gegenteil: Je ernster und angespannter das Leben erscheint, umso wichtiger sind Momente der Katharsis, des sinnbefreiten Entertainments, des Gedankenabschaltens und des blanken Vergnügens. Macht das Leben keinen Spaß, hilft auch kein Sinn.
Ähnliches gilt in meinen Augen für die Gelassenheit: Erst ein gewisses Maß an Selbstvertrauen – und zwar ein erarbeitetes, kein aus Unsicherheit vorgetäuschtes – und die Einsicht, was man alles (nicht) beeinflussen kann, sorgen für die Art von Gefasstheit in turbulenten Situationen, die jungen Menschen oft noch fehlt.
Und auch das unschuldige Staunen über die Wunder dieser Welt geht nicht zwingend verloren, wenn man den Weihnachtsmann als Lügenmärchen durchschaut oder Verliebtsein als Hormon-Cocktail erklärt bekommen hat. Mir zumindest ist es nach wie vor unmöglich, eine gute Naturdokumentation zu schauen, ohne angesichts der Erstaunlichkeiten dieses Planeten und des ihn umgebenden Kosmos sprachlos den Kopf zu schütteln und mich einen Moment lang sehr klein zu fühlen.
“Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“ – Erich Kästner
Wirklich?
Ich behaupte: Alle Vorteile, die es vermeintlich hat, ein Kind zu sein oder zu bleiben, kann man auch als Erwachsender genießen. Tut man das in den richtigen Momenten und Kontexten, nennen wir das Verhalten „kindlich“; ist der Zeitpunkt oder die Situation eher unangemessen, bezeichnen wir es als „kindisch“.
Aber warum sollte man „Kind bleiben“ wollen? Fraglos hat es sehr viel mehr und gravierendere Nachteile, ein Kind zu sein: Man ist hilflos, wehrlos und auf die Unterstützung reiferer Menschen angewiesen; man wird von den eigenen Emotionen beherrscht, anstatt sie zu beherrschen; man hat wenig Erfahrung, wird von der Welt regelmäßig überfordert und von ihren Bewohnern eingeschüchtert; man versteht die Welt nicht und hat auch keine Chance, sie zu verstehen.
Hat Ludwig Wittgenstein Recht und die Grenzen der Sprache bedeuten die Grenzen der Welt, dann bleibt Kindern zwangsläufig das Beste verborgen, was die menschliche Existenz zu bieten hat.
Das eine sein, ohne das andere zu verlieren
Viele Menschen, die vom Alter oder Status her bereits reife, kompetente Erwachsene sein müssten, verhalten sich tatsächlich überraschend oft wie Teenager: Sie haben ihre Emotionen nicht unter Kontrolle, handeln impulsiv und unüberlegt, werden von den Auswirkungen ihres Handelns überrascht, reagieren trotzig auf Kritik und suchen die Schuld für Misserfolg bei allen und allem außer sich selbst.
Mir erschließt sich nicht, wie man darin etwas Bewahrenswertes finden kann. Nicht umsonst spielen die Arbeit an und Versöhnung mit dem „inneren Kind“ in einem therapeutischen Kontext eine Rolle: Viele Verhaltens- und Denkmuster, die zum Selbstschutz in einem frühkindlichen Alter womöglich Sinn gemacht haben, sorgen in der Welt der Erwachsenen irgendwann für Probleme.
Ich verstehe durchaus, warum man sich wünschen kann, gewissen Qualitäten und Verhaltensweisen aus Kinderzeiten bewahren zu wollen. Aber: In welchem Grundmodus möchte man sich durch diese Welt voller Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten, voller Herausforderungen und Rückschläge, voller Komplexität und Gleichzeitigkeiten bewegen?
Lieber bin ich ein grundsätzlich reifer, ernster Erwachsender, der in den richtigen Momenten und im richtigen Maße kindlich sein kann, als ein großes Kind geblieben zu sein, das regelmäßig als unreif und kindisch wahrgenommen wird.
Wem würdest du eher eine große Verantwortung übertragen, ein Geheimnis anvertrauen oder eine anspruchsvolle Aufgabe zuteilen? Wen hättest du lieber an deiner Seite, wenn es ernst wird?
Erst der weite Horizont eines Erwachsenden lässt einen wirklich wertschätzen, was man hat oder bekommt, was man kann und was andere können. Und was könnte lebensbestimmender sein als der Sinn, den man seinem Leben gibt – und der sich ebenfalls erst einem Erwachsenden erschließt?
“Mit der Zeit und wachsender Erfahrung wiederholen sich die Dinge, und je mehr Wiederholung, desto weniger Überraschung. Mit der Überraschung nimmt aber auch die Leidenschaft ab. Die Fakten sind dieselben, aber man empfindet sie nicht mehr intensiv. Und ist das nicht in Wirklichkeit gut so? Das Leben ist trüber und langweiliger, aber es tut auch nicht mehr so weh. Wer früher einmal bis in den Morgen hineintanzte und sich seinen Träumen überließ, ist nun zufrieden damit, früh ins Bett zu gehen und ausgiebig zu schlafen. Die Aufregung fehlt, der Kater aber auch.”
— Susan Neiman in “Warum Erwachsen Werden?”
Mehr zu diesem Begriff in meinem Text “Die Erwachsenden”